6 10.02.1926, Brief von Artin an Hasse

Hamburg 36,
Pilatuspool 11III 28 10. Febr. 1926 29

Lieber Herr Hasse!

Ich glaube dass bisher jeder meiner Briefe mit einer langen Epistel von Entschuldigungen, Selbstanklagen, Besserungsversprechungen ect. begann – eben musste ich in gleichem Sinne an Courant schreiben – Ihnen gegenüber aber kann ich den Geschäftsgang vereinfachen, ich sage einfach siehe letzter Brief Einleitung. Nur die dort sicher vorhandenen Besserungsversprechungen muss ich erneut besonders betonen, denn es wäre schon ganz schlimm mit mir, wenn sogar die wegfielen. Sonst bin ich leider unverbesserlich.30

Meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer schönen Darstellung der komplexen Multiplikation31 . Im Detail habe ich die Sache noch nicht nachrechnen können – ich habe leider in diesem Semester mit meinen Kollegs viel zu tun – aber ich sehe im Grossen Ganzen wie die Sache läuft und dass es einfach geht. Sie schreiben an einer Stelle, man könne die Multiplikatorgleichung in der Theorie des Klassenkörpers oder sogar Ringklassenkörpers nicht umgehen. Ich habe daraufhin meine früheren Aufzeichnungen revidiert und kann nicht sehen wo man sie brauchen sollte. Was jedenfalls die Zerlegungsgesetze betrifft, so kommt man allein mit der Transformationsgleichung für j(w) aus. Ihre Bemerkung bezieht sich also doch wohl auf den Satz, dass im Klassenkörper die 24te (meinetwegen 12-te) Potenz jedes Ideals des Grundkörpers Hauptideal wird. Ich muss allerdings sagen, dass ich mit Vergnügen auf diesen Satz verzichte, wenn es sich nicht um die Ideale selbst handelt.

Sehr interessant sind auch Ihre Bemerkungen am Schlusse zu der Frage, ob man mit den Teilwerten der p-Funkt[ion] allein auskommt. In seinem Vorwort verspricht ja Fueter im zweiten Bande „zum ersten Mal“ diese Tatsache zu beweisen. Es scheint mir so, als ob er eben nur einen ersten Beweisversuch wird liefern können. So wie es schon früher mit dem Jugendtraum war.

Wie Sie wissen, war ich eine Weile lang auf topologischen Abwegen32 . Nun hab’ ich aber wieder Lust reumütig zurückzukehren. Da man sich aber nicht von heute auf morgen umstellen kann, so habe ich erst mal in einigen kleineren Sachen herumprobiert.

Da ist zunächst das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für Kreiskörper der ln-ten Einheitswurzeln33 . Wissen Sie näheres darüber? Die Sache läuft natürlich wieder auf Lagrange’sche Wurzelzahlen hinaus, ist aber ungleich schwerer da ja, das Hindernis kennen Sie ja wohl auch, f(ln) durch ln-1 teilbar ist. Sie haben sicher selbst mindestens ebenso oft wie ich über diesen fatalen Umstand geschimpft. Leider wird es aber dadurch nicht besser. Zur Orientierung nahm ich zunächst den Fall 4 vor. Da erhält man erst dann etwas über biquadratische Reste, wenn man in den Körper der 8-ten Einheitswurzeln hineinsteigt. Ich habe noch nicht probiert, ob das sonst auch geht. Wissen Sie also was davon?

Bei der Gelegenheit habe ich mir die Lagrange’schen Wurzelzahlen für l = 3 angesehen, also die Verallgemeinerung der Vorzeichenbestimmung für Gauss’sche Summen. Kummer hat darüber viel gerechnet. Ich lege Ihnen auf einem Zettel das Kummersche Resultat bei, wobei ich noch die Zerlegungen der Primzahlen im Kreiskörper R(r) hinzufüge. Können Sie irgend ein Gesetz der Tabelle entnehmen? Vielleicht sind Sie glücklicher als ich. Die Zerlegungen A,B in R(r) habe ich hinzugefügt, da diese ja doch eine Rolle bei der Einteilung spielen werden. Auffallend ist, wie wenig Primzahlen in die dritte Kategorie fallen. Kummer selbst vermutet, dass die Anzahlen im Verhältnis 3:2:1 stehen werden. Jedenfalls eine rätselhafte Angelegenheit.34

Haben Sie die Arbeit von Tschebotareff in den Annalen Bd 95 gelesen? Ich konnte sie nicht verstehen und mich auch aus Zeitmangel noch nicht richtig dahinterklemmen. Wenn die richtig ist, hat man sicher die allgemeinen Abelschen Reziprozitätsgesetze in der Tasche. Das Studium der Arbeit haben wir hier auf das nächste Semester verschoben. Vielleicht haben Sie sie schon gelesen und wissen also ob falsch oder richtig?35

Wie Sie sehen, habe ich nichts als Fragestellungen zu „berichten“. Um den Gauss’schen Summen näherzukommen habe ich mich noch mit der Funktion

        sum  oo  -n3pt
f (t) =    e
       n=1
beschäftigt. Sie hat zwar keine Transformationsformel, man kann aber f(1
t) entwickeln in eine Reihe nach Besselfunktionen. Bis jetzt ist es mir aber noch nicht gelungen, dies auf das Problem der Gauss’schen Summen anwenden zu können.36

Wie geht es Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin in Halle? Ich kenne ja leider diese Stadt noch gar nicht und bin nur hie und da mit der Bahn daran vorbei gekommen. Ist die Lage schön?37

Vorhin sprach ich zweimal vom Zeitmangel. Ich habe mich nämlich zu einem Mechanikkolleg verleiten lassen, und da ich noch nie Mechanik gehört hatte, musste ich sie selbst lernen, was ja recht nützlich aber auch recht zeitraubend ist. Dazu noch analytische Zahlentheorie, was ja etwas einfacher ist. Jedenfalls haben mir die beiden Kollegs die ganze Zeit weggenommen und ich komme augenblicklich nicht dazu, mich mit einer Frage eingehend zu befassen.

Was lesen Sie denn dieses Semester?

Nun hoffe ich meine grossen Briefsünden etwas verringert zu haben.

Ach, eine Sache muss ich Ihnen noch erzählen, meine Sommerreise.

Ich hatte den Spleen nach Island zu fahren. Das war aber auch wirklich eine lohnende Sache.38

Anfang August ging es mit dem Schiff nach Bergen und von dort an die Nordküste von Island. Der erste Teil der Reise war eine Wanderung zum Mývatn, dem „Mückensee“. Der Mývatn ist einer der schönsten Punkte der Insel und ist das vulkanische Zentrum. Von dort nach Akureyri, der grössten „Stadt“ im nördlichen Island, und von hier eine Wanderung durch die Basaltberge des Skagafjörds. Dann mit dem Schiff nach Reykjavik, von dort Ausflüge nach Thingvellir, der alten Thingstätte. Im ganzen 450 km Fussmarsch, der mir sehr gut getan hat. Es war über alle Massen schön. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich Ihnen noch ausführlich darüber berichten. Von Reykjavik zurück nach Bergen dann mit der Bahn nach Oslo und von dort mit dem Schiff nach Fredericshagen.

Sie als ehemaliger Seeoffizier werden natürlich mich Landratte verlachen. Aber, nie wieder Skagerak. Es war furchtbar. Im Atlantik, auf der ganzen Islandfahrt war ich nicht seekrank und im Skagerak hat es mich erwischt. Der Zustand war schrecklich. Brr!

Also von meinen zahlreichen Islanderlebnissen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Nur eines:

Wissen Sie wie man in Island die Eier kocht? Man geht zu einem Geysir mit den Eiern und einer Schüssel kaltem Wasser. Dann wartet man bis der Geysir einen Ausbruch hat und wirft die Eier in den Wasserstrahl. Sie tanzen dann auf der Höhe des kochend heissen Strahls auf und ab. Da der Ausbruch genau 3 Minuten dauert, sind sie dann schön pflaumenweich gekocht. Der Strahl sinkt langsam herab, die Eier mit ihm und man nimmt nun die Schüssel kalten Wassers und fängt darin die weichgekochten Eier auf, um sie gleich abzuschrecken. So wirds gemacht! Tja! Nichts für ungut.

Bitte meine besten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin zu übermitteln.

Mit herzlichen Grüssen

      Ihr Artin

Beilage zum Brief Nr. 6:

Sei R(r) der Körper der dritten Einheitswurzeln39 , p  =_ 1 (mod 3) Primzahl und p = p . p' die Zerlegung von p in R(r), wobei p in dem genaueren Sinne semiprimär ist, dass p  =_ -1 (mod 3) sei.

Man setze:

                  2npi
        p sum -1(n  )  -----
S(p)  =      --  e  p  .
        n=1  p
Dann zeigen elementare Rechnungen dass:
S(p) .S(p') = p  und   (S(p))3 = p p
ist, wobei man die letztere genaue Formel so beweist, dass man rechts zunächst nur pp oder pp' herausbekommt und dabei
              p- 2(        )
p  oder p'=    sum    n(n +-1)   ist. Daraus folgt unmittelbar
                      p
        (     n=1)
     p- sum  2  n(n +-1)                       '
p =          p       also pp  und nicht pp  .
     n=1
Dies ist ganz elementar und liefert wie Ihnen ja bekannt ist, in wenigen Zeilen das kubische Reziprozitätsgesetz.

Nunmehr möge ni diejenigen Zahlen durchlaufen für die

(ni-)    i
  p   = r
ist und es werde
         2nipi
j =   sum  e  p
 i   n
      i
gesetzt. Dann ist also:
S(p)  = j +  rj + r2j             (j  + j + j  = - 1) .
         0     1     2              0    1   2
Setzt man zi = 3ji + 1 und wird p =       V ~ ---
A-+-3B----3-
     2 gesetzt, so findet man:
(z0 - z1)(z0-  z2)(z1- z2) = 27pB
so dass also das Vorzeichen dieses Produkts bestimmt ist, bei etwa positiv gewähltem B (d.h. passendem p) also nur eine der folgenden Anordnungen für die reellen zi möglich ist:
z2 < z1 < z0 oder  z1 < z0 < z2  oder  z0 < z2 < z1 .
Die zi sind nun Wurzeln der Gleichung
z3- 3p z- p A = 0 .
Wegen 4p = A2 + 27B2 sieht man leicht, dass die Wurzeln durch die Zahlen
    V~ --   V~ --  V~ -   V~ --
- 2  p, -  p,  p, 2  p
vollständig getrennt werden. Es genügt also zu wissen wohin z0 fällt um dann schon wegen der Diskriminantenbedingung z1 und z2 angeben zu können.

Nun ist

                2npi        2n3pi
           sum     -----  p sum -1  ------
z0 = 1+ 3      e p   =    e   p   .
         (nw )=1         n=0

Nach Kummer gilt nun

Für p < 500 fällt z0:

I.  Ins Intervall  V~ --
  p < z 0 < 2 V~ -
 p für




p AB



7 1 1



31 4 2



43 -8 2



67 -5 3



73 7 3



79-17 1



103 13 3



127-20 2



163 25 1



181 7 5



223 28 2






p AB



229 22 4



271 -29 3



277-26 4



307 16 6



313-35 1



337 -5 7



349 37 1



409 31 5



421 19 7



439 28 6



457 10 8



463 -23 7



499-32 6



II.  Ins Intervall - V~ --
  p,  V~ --
  p fällt z 0 für




p AB



13 -5 1



19 7 1



37-11 1



61 1 3



109 -2 4



157-14 4



193-23 3






p AB



241-17 5



283 -32 2



367-35 3



373 13 7



379-29 5



397 34 4



487 25 7



III.  Ins Intervall -2 V~ --
  p,  - V~ -
 p fällt z 0 für

p AB



97 19 1



139-23 1



151 19 3



199-11 5



211 13 5



331 1 7



433 -2 8



Kommentare zum Brief Nr.6:

Der Grund zu diesem Brief scheint hauptsächlich der zu sein, dass Artin einen neuen Anlauf zum Beweis seines Reziprozitätsgesetzes genommen hat, das er im Juli 1923 in seiner Arbeit über seine neuen L-Reihen vermutet hatte und bisher nur in speziellen Fällen hatte beweisen können. (Siehe Brief Nr.1, sowie 5.6.) Offenbar hatte er inzwischen das Problem beiseite gelegt und sich anderen Gebieten zugewandt (auf den „topologischen Abwegen“; siehe 6.2). Jetzt aber kommt er wieder auf das Problem zurück und hofft, dass sich aus der Korrespondenz mit Hasse neue Ideen dafür ergeben werden. Wir erinnern daran, dass Hasse seit Ostern 1925 eine Professur in Halle angetreten hatte, also nicht mehr in Kiel war. Seitdem nahm also Hasse nicht mehr an den Seminaren in Hamburg teil, und er traf nicht mehr, wie früher, häufig mit Artin zusammen. Demgemäß wird jetzt der Briefverkehr wieder aufgenommen.

Artin nahm offenbar das Hasse’sche Manuskript über komplexe Multiplikation, das ihm von Hecke gezeigt worden war, zum Anlass für diesen Brief. Artin wollte mitteilen, mit welchen Ideen er sich jetzt beschäftigt. Das Thema der späteren gemeinsame Arbeit über den zweiten Ergänzungssatz für den Exponenten ln kommt in diesem Briefe noch nicht zur Sprache. (Dazu siehe 7.1 und 14.2.)

  6.1 Komplexe Multiplikation
  6.2 Topologie
  6.3 Eisensteinsches Reziprozitätsgesetz
  6.4 Kubische Gauss’sche Summen
  6.5 Die Arbeit von Tschebotareff