6.3 Eisensteinsches Reziprozitätsgesetz

Das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz43 bildete bislang, d.h. im Falle eines Primzahlexponenten m = l, ein „unentbehrliches Hilfsmittel“ zum Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes. Wenn also Artin in diesem Brief das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für einen Primzahlpotenz-Exponenten m = ln anspricht, dann geschieht das wohl in der Annahme, dass auch in diesem Falle das Eisensteinsche Gesetz für den allgemeinen Beweis nötig sei. Artin hatte sein Reziprozitätsgesetz ja schon im Jahre 1923 formuliert [Art23b], konnte es aber damals im wesentlichen nur für abelsche Körpererweiterungen von Primzahlexponent beweisen, sowie aus den daraus komponierten Körpern. Es blieb noch der Fall eines Primzahlpotenz-Exponenten zu erledigen – und das erklärt vielleicht, weshalb er sich gerade jetzt mit dem Eisensteinschen Gesetz für Primzahlpotenz-Exponenten beschäftigt, nämlich als Vorstufe zu seinem allgemeinen Reziprozitätsgesetz.

Es scheint so, dass Artin noch nicht recht weiß, wie denn im Falle eines Primzahlpotenz-Exponenten die Verallgemeinerung des Eisensteinschen Gesetzes auszusehen habe, denn er fragt Hasse, ob dieser schon Näheres darüber weiß.

In dem vorliegenden Brief teilt er lediglich mit, dass er sich darüber Gedanken macht. Und dass er für den Fall ln = 4 nur dann etwas erhält, wenn man die 8-ten Einheitswurzeln heranzieht. Er fragt Hasse wiederum, ob dieser etwas davon weiß.

Wir wissen nicht, ob und wie Hasse darauf geantwortet hat. Tatsache ist, dass Hasse ein halbes Jahr später, im September 1926, den Mathematischen Annalen ein Manuskript einreichte, in welchem er sich mit dem Eisensteinschen Reziprozitätsgesetz für einen beliebigen Exponenten m befasst [Has27b]. Es gelingt ihm, das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz in dieser Allgemeinheit zu beweisen, mit Ausnahme des Falles, in dem m durch 8 teilbar ist. In dem letzteren Falle gelingt es ihm lediglich, das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für den Exponenten m4- zu beweisen (unter der Voraussetzung, dass die m-ten Einheitswurzeln im Grundkörper liegen). Diese Schwierigkeit entspricht der Beobachtung von Artin, die er in diesem Brief berichtet, über biquadratische Reste im Körper der 8-ten Einheitswurzeln.

Wir werden auf diese Arbeit von Hasse später noch einmal zurückkommen; siehe 9.4.

Allerdings stellte sich ein Jahr später heraus, dass Artin seine neue Fassung des Reziprozitätsgesetzes schließlich unabhängig von dem Eisensteinschen Reziprozitätsgesetz gewinnen konnte; siehe Brief Nr.8 vom 10.7.1927.

Im nächsten Brief Nr.7 vom 10.09.1926 ist zu sehen, dass Artin seine Untersuchungen über das Reziprozitätsgesetz für Primzahlpotenz-Exponenten ln weitergeführt hat, jetzt in Richtung des zweiten Ergänzungssatzes und zunächst für den Exponenten l2. In der Tat wird der Gedankenaustausch schliesslich wieder zu einer gemeinsamen Arbeit führen, nämlich über die beiden Ergänzungssätze im Falle eines Primzahlpotenz-Exponenten ln; siehe 17.1.

Richard Brauer meint in seinem Nachruf auf Artin [Bra67], dass das Thema der beiden gemeinsamen Arbeiten, also die Ergänzungssätze, vielleicht näher an dem Interessengebiet Hasses gelegen habe als an demjenigen von Artin. Jedenfalls entnehmen wir aus dem Briefwechsel Artin–Hasse, dass sich nicht nur Hasse, sondern auch Artin lebhaft für dieses Thema interessiert hat. Artin hat vehement und mit Nachdruck an der Ausarbeitung der expliziten Formeln für die Ergänzungssätze teilgenommen.