8 17.07.1927, Brief von Artin an Hasse


Hamburg, am 17.7.27

Lieber Herr Hasse!

Es ist sehr lange her1 , dass ich Ihnen nicht geschrieben habe. Dafür möchte ich Ihnen heute eine Mitteilung machen, die Sie sicher interessieren wird. Ich habe in diesem Semester eine zweistündige Vorlesung über Klassenkörper gehalten und dabei endlich das „allgemeine Reziprozitätsgesetz“ bewiesen, in der Fassung, die ich ihm in der L-Reihenarbeit gegeben habe:2

Es sei k ein beliebiger Grundkörper, K Klassenkörper für k nach dem Strahl H. Die Idealklassen von k mögen nach H erklärt werden. G sei die galoissche Gruppe von K/k und s ihre Substitutionen. Einem Primideal p aus k werde in bekannter Weise eine Substitution s zugeordnet: Für alle ganzen Zahlen A aus K soll gelten, (Np Norm in k in bezug auf R):

ANp  =_  sA  (mod  p)
(p sei teilerfremd zur Relativdiskriminante).

Das Reziprozitätsgesetz lautet nun:

  1. Die Primideale p einer ganzen Klasse aus k und nur diese besitzen die gleiche Substitution. Es sind also die Klassen von k ein-eindeutig auf die Substitutionen von G bezogen.
  2. Dem Produkt zweier Klassen entspricht das Produkt der Substitutionen. Die Abbildung gibt also den Isomorphismus zwischen Klassen und galois’scher Gruppe wieder.

Der Beweis ist ganz einfach und benutzt eine der Methoden von Tschebotareff.3 Allerdings nicht die analytischen Methoden. Das hatte ich ja schon lange vermutet.4

Unmittelbar folgt daraus für das Jakobische Symbol der m-ten Potenzreste5 (wenn die m-ten Einheitswurzeln zu k gehören):

(m-)
 a hängt nur ab von der Klasse in der a liegt.

Klasseneinteilung diejenige, für die k(m V~ --
 m) der Klassenkörper ist. Diese Folgerung steht schon in der L-Reihenarbeit und hat mich überhaupt dazu geführt, die vorige Formulierung als das allgemeine Reziprozitätsgesetz zu bezeichnen. Wenn m eine Primzahl ist, hat schon Takagi dies als den wesentlichen Inhalt des Reziprozitätsgesetzes bezeichnet.6

Es folgt aber umgekehrt aus diesem Satz noch keineswegs umgekehrt das allgemeine Reziprozitätsgesetz.

Damit ist endlich alles aus der L-Reihenarbeit bewiesen.

Man wird sich natürlich jetzt noch bemühen müssen, daraus die Hilbertsche Fassung zu gewinnen für den Fall dass die m-ten Einheitswurzeln zu k gehören.7 Einige oberflächliche Überlegungen haben mir gezeigt, dass dies an keiner prinzipiellen Schwierigkeit scheitert und nur etwas langweilig ist. Ich hoffe, in den Ferien dazu zu kommen, es mir zu überlegen. Hauptsächlich benötigt man es aber doch nur in der vorigen Fassung.

Von meinen früheren Arbeiten haben Sie wohl schon die Separata. Die betrafen andere Dinge.

Sowie ich Korrekturen erhalte, will ich sie Ihnen zusenden. Da ich den Beweis erst vor einigen Tagen fand, ist es noch nicht so weit. Ich glaube übrigens auch, dass man damit an den Hauptidealsatz heran kann und habe auch schon einige Ansätze. Ich bin aber noch nicht ganz damit durchgekommen und beginne zu fürchten, dass dies deshalb nicht geht, weil er falsch ist. Dann müsste man ein Gegenbeispiel konstruieren. Ich habe aber immer noch eine leise Hoffnung dass es doch gehen wird.8

Wie geht es Ihnen? Wie ich höre, sollen Sie jetzt einen neuen Bericht über Takagi für die Annalen schreiben. Das wäre sehr schön.9

Kommen Sie eigentlich nach Hamburg zur Hilbertwoche?10 Es werden ziemlich viel Leute erscheinen, Caratheodory, Weyl, Bohr, E. Schmidt, Toeplitz mit vielen Studenten … Es wäre doch sehr nett wenn Sie da auch kämen und wir wieder mal ein bischen fachsimpeln könnten. Sie wissen ja, schriftlich geht das bei mir nicht. Wie lange bleiben Sie während der Ferien in Halle und wann kommen Sie wieder zurück? Vielleicht könnte ich Sie auch einmal auf der Durchreise aufsuchen. Ich fahre allerdings erst gegen Ende August dort durch und Anfang Oktober wieder zurück.11

Mit herzlichen Grüssen und einer Empfehlung an Frau Gemahlin

      Ihr Artin Kommentare zum Brief Nr.8:

Der Brief Nr.8 ist ein bemerkenswertes historisches Dokument. Wenige Tage nachdem Artin den Beweis seines bahnbrechenden „allgemeinen Reziprozitätsgesetzes“ gefunden hatte, teilte er dies Hasse mit. Der Satz wird heute nach dem Vorschlag von Hasse [Has30a] „Artinsches Reziprozitätsgesetz“ genannt; er gilt als die Krönung der von Weber, Hilbert, Takagi konzipierten Klassenkörpertheorie und hat eine Wende im Selbstverständnis der algebraischen Zahlentheorie eingeleitet.

An den Brief Nr.8 schließt sich in den nächsten drei Monaten ein intensiver brieflicher Gedankenaustausch zwischen Hasse und Artin an; wie es später heißen wird war es ein gegenseitiges „Bombardement“ von Briefen (Nr.8-17). Während im Jahre 1923 bei dem engen Briefwechsel (Briefe Nr.1-5) wesentlich die Gedanken zu einem einzigen mathematischen Satz zur Sprache kamen (nämlich dem zweiten Ergänzungssatz bei Primzahlexponent), wird es jetzt darum gehen, die Wirkung des Artinschen Reziprozitätsgesetzes auf die Klassenkörpertheorie auszuloten und die zahlreichen Folgerungen zu erkunden.

  8.1 Artins Vorlesung 1927
  8.2 Das Jacobische Symbol
  8.3 Hasses Pläne für die Annalen