9.4 Furtwänglers Trick

Wenn Artin im ersten Satz seines Briefes schreibt, dass ihn Hasses Antwort „brennend interessiert“ habe, dann steht dabei wohl Hasses Mitteilung über eine Methode von Furtwängler im Vordergrund, dieselbe Methode, über die Artin weiter unten in Punkt 3.) seines Briefes sagt, er sei „besonders gespannt“ darauf. Artin erbittet von Hasse den Furtwänglerschen Beweis, weil er jetzt nicht die Zeit findet, Furtwänglers Arbeit ausführlich zu lesen. Und am Schluss des Briefes macht er die Sache besonders dringlich, weil er den Beweis noch in seiner Vorlesung bringen möchte.

Offenbar handelt es sich um diejenige Arbeit von Furtwängler, die 1927 im Jubiläumsband des Crelleschen Journals erschienen war, mit dem Titel: Über die Reziprozitätsgesetze für Primzahlpotenzexponenten [Fur26]. Furtwängler bewies darin das allgemeine Reziprozitätsgesetz (2) (Seite 55) für den Exponenten m = l2 wobei l eine ungerade Primzahl ist. Am Schluss dieser Arbeit finden wir den „Beweis von (  )
  ab- = ( )
 ba-aus der bewiesenen (  )
  ma-Tatsache“, auf den Artin gespannt ist.

Dazu ist folgendes zu sagen.

Die Furtwänglerschen Arbeiten galten allgemein als schwer lesbar (jedenfalls für jemanden, der nicht gut mit den Hilbertschen Arbeiten vertraut war); auch Artin macht ja in seinem Brief eine Bemerkung in dieser Richtung. Bei der in Rede stehenden Arbeit kommt hinzu dass, wie Furtwängler in seinem Vorwort schreibt, „der beschränkte Raum eine knappe Behandlung notwendig machte“. Ausserdem, so schreibt er weiter, könne die Theorie der l2-ten Potenzreste „als Paradigma für die ln-ten Potenzreste dienen“; das wird aber nicht weiter ausgeführt.

Als Hilfsmittel zum Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes hatte Furtwängler die Verallgemeinerung des Eisensteinschen Reziprozitätsgesetzes für den Exponenten m = l2 benutzt und bewiesen. Dies stand ganz in der klassischen Tradition; wir erinnern uns, dass Hilbert schon für den Fall eines Primzahlexponenten m = l gesagt hatte, dass das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz ein „unentbehrliches Hilfsmittel“ zum Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes sei34 .

Diese Situation hatte nun Hasse bewogen, selbst eine Arbeit über das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz der m-ten Potenzreste zu verfassen, und zwar gleich für einen beliebigen Exponenten m. Hasse sagt in seinem Vorwort:

Ich hoffe, in seinem [Furtwänglers] und seiner Leser Sinne zu handeln, wenn ich seine Skizze des Eisensteinschen Reziprozitätsgesetzes der l2-ten Potenzreste zu einer ausführlichen Darstellung ausbaue und dabei durch Hinzufügung einiger weiterer Überlegungen gleich den allgemeinsten Fall, nämlich das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz der Potenzreste eines beliebigen Exponenten m behandele.

Die Hassesche Arbeit erschien im Jahr 1927 in den Mathematischen Annalen [Has27b]35 , aber Hasse hatte sie schon im September 1926 fertiggestellt, also lange bevor er jetzt (Juli 1927) die Nachricht von Artin über seinen Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes erhielt. Zuvor hatte Hasse bei Furtwängler angefragt, ob jener die Publikation gutheisse. Furtwängler antwortete am 23.9.1926:

Gegen die Veröffentlichung Ihres Beweises des verallgemeinerten Eisenstein’schen R[eziprozitäts]G[esetzes] habe ich natürlich gar nichts einzuwenden. Was meine eigenen Untersuchungen über die höheren R[eziprozitäts]G[esetze] betrifft, so habe ich den Fall des Exponenten l2 schon vor etwa 10 Jahren vollständig erledigt, habe aber das Manuskript liegen lassen. Ich habe mir nun seiner Zeit ganz im allgemeinen überlegt, dass einer Verallgemeinerung auf ln keine prinzipiellen Schwierigkeiten im Wege stehen. Genaueres kann ich aber darüber nicht sagen. Ich werde in diesem Winter ein Seminar über Klassenkörper und R[eziprozitäts]G[esetz] halten und hoffe dabei auch bezüglich der Verallgemeinerungen vorwärts zu kommen.

Offenbar war es das Ziel von Furtwängler und auch von Hasse, auf dem Wege über die Verallgemeinerung des Eisensteinschen Reziprozitätsgesetzes zu dem allgemeinen Reziprozitätsgesetz für eine beliebige Potenz ln vorzudringen, was Furtwängler bislang nur für l2 gelungen war, obwohl er für den Fall ln keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr sah.

Wir haben dies erwähnt, um darzustellen, dass Hasse mit den Furtwänglerschen Ideen und Methoden vertraut war, als er die Nachricht von Artin über die „(m)
 a-Tatsache“ erhielt, d.h. über die Tatsache, dass das Potenzrestsymbol (m)
 a nur abhängt von der Idealklasse des Nenners a in der Klassengruppe A/H zu k(m V~  --
  a). Hasse erkannte sofort, dass dies einen ganz einfachen Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes (2) liefert, denn den von Furtwängler im Falle m = l2 benutzten Trick, für beliebiges m verallgemeinert, kann man schon dann anwenden, wenn man die Artinsche „(  )
  ma-Tatsache“ kennt, ohne auf das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz zurückgreifen zu müssen.

Dieser Furtwänglersche Trick besteht darin, den Grundkörper k zunächst auf K = k(m V~  ----1
  ab) zu erweitern, von wo aus die Behauptung aufgrund der Artinschen „(m )
 a-Tatsache“ ohne weiteres einsichtig wird. Denn der Körper K( V~ -
ma) ist unverzweigt über K (weil nämlich a als primär vorausgesetzt ist; diese Voraussetzung überträgt sich von dem Grundkörper k auf jede Erweiterung, also auch auf K). Mithin ist die zugehörige Strahlklassengruppe eine Faktorgruppe der gewöhnlichen Idealklassengruppe. Die Divisoren von m V~ a-- = A und von m V~  --
  b = B in K sind im gewöhnlichen Sinne äquivalent. Also folgt in K nach Artin (   )
  a-
  B = (  )
  b-
  A. Von K kann dann vermöge Normbildung auf k als Grundkörper geschlossen werden.

Furtwängler allerdings konnte die Artinsche „(  )
  ma-Tatsache“ noch nicht verwenden und musste sich daher auf das von ihm bewiesene Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für den Exponenten l2 stützen. Daher konnte er seinen Trick nur im Falle des Exponenten m = l2 durchziehen. Doch Hasse hatte erkannt, dass der Trick für einen beliebigen Exponenten m funktioniert, gestützt auf die Artinsche „(m)
 a-Tatsache“. Und er hat dies offenbar in seiner Antwort an Artin sogleich mitgeteilt. Danach sei es möglich, so Hasse, nunmehr das allgemeine Reziprozitätsgesetz für einen beliebigen Exponenten m in einfacher Weise aus den Artinschen bisherigen Resultaten herzuleiten. Das ist es, was Artin „brennend interessiert“ hatte.

Hasse ist offenbar der Bitte Artins um einen Beweis umgehend nachgekommen, denn schon zwei Tage später, im nächsten Brief Nr.10, bedankt sich Artin „für den wirklich wundervollen Beweis von Furtwängler“, und er fragt an, ob er diesen Beweis in seine Arbeit aufnehmen dürfe. Offenbar hat Hasse dem zugestimmt und somit finden wir den Beweis in Artins Publikation [Art27a]. In dem ursprünglichen Konzept, das Artin ja in der Beilage zu diesem Brief ausführlich darstellt, war das nicht vorgesehen. Im übernächsten Brief Nr.11 vom 26.7. sagt dann Artin, dass er die Arbeit aufgeschrieben und an die Druckerei gegeben hat. Furtwängler und Hasse werden in der Arbeit zitiert. Übrigens hatte Furtwängler seinen Trick schon früher einmal angewandt, nämlich in der Arbeit [Fur09] aus dem Jahre 1909, damals für den Exponenten l und gestützt auf das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für den Exponenten l. Artin zitiert auch diese frühere Arbeit.

BEMERKUNG1: Wie aus der obigen Diskussion des „Furtwänglerschen Tricks“ hervorgeht, wird dabei nicht das volle Artinsche Reziprozitätsgesetz für beliebige abelsche Erweiterungen benutzt, sondern nur in dem Falle, dass es sich um eine unverzweigte zyklische Erweiterung K( V~ --
m a) eines Körpers K handelt, der die m-ten Einheitswurzeln enthält. In einem solchen Falle war das Artinsche Reziprozitätsgesetz bereits zu Beginn des Jahrhunderts formuliert worden, und zwar in der Arbeit von Bernstein [Ber04], allerdings ohne Beweise. Genauer gesagt, findet man dort die „(m)
 a-Tatsache“ für eine Körpererweiterung der genannten Art. Uns ist nicht bekannt, weshalb Bernstein damals und auch später keine Beweise publiziert hat. Hätte man schon Beweise zur Verfügung gehabt und bedenkt man, dass „Furtwänglers Trick“ bereits 1909 zuerst angewandt wurde, so wäre es durchaus möglich gewesen, die Reziprozitätsgesetze für beliebige Exponenten schon im Jahre 1909 zu beweisen, und zwar ohne das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz zu Hilfe zu nehmen.

Dies betrifft, um es noch einmal zu sagen, das Reziprozitätsgesetz für die Potenzreste; das Artin’sche Reziprozitätsgesetz für beliebige abelsche Zahlkörper-Erweiterungen beruht auf der Takagischen Klassenkörpertheorie der Jahre 1920/22 und bedeutete eine Entdeckung von ganz anderer Tragweite.

BEMERKUNG2: Als Furtwängler von Hasse erfuhr, dass Artin die „(m)
 a-Tatsache“ in einfacher Weise aus dem neuartigen Artinschen Reziprozitätsgesetz herleiten konnte, antwortete er (Brief vom 29.7.1927):

Sehr geehrter Herr Hasse! Besten Dank für Ihre freundliche Mitteilung, die mir neu war. Der Satz selbst ist mir bekannt, und ich würde ihn auch beweisen können, aber nur mit Hülfe des Eisensteinschen R[eziprozitäts] G[esetzes]. Wenn also Herr Artin einen kurzen Beweis für diesen Satz ohne Benutzung des Eisenstein’schen R[eziprozitäts] G[esetzes] hat, so ist das ein großer Fortschritt und sehr zu begrüssen, da es die Theorie erheblich vereinfacht

Wir sehen hier wieder den Unterschied zwischen dem Ansatz von Takagi-Furtwängler und dem von Artin. Während die ersteren alles auf das „Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz“ in Q( V~ l-
  1) zurückführen, beweist Artin gleich direkt das klassische Reziprozitätsgesetz (2) mit Hilfe seines neuartigen Reziprozitätsgesetzes und der daraus folgenden „(  )
 ma-Tatsache“, und dies für beliebigen Exponenten m und beliebigen Zahlkörper k.

In dem oben zitierten Brief vom 29.7.1927 fährt Furtwängler fort:

Ich hatte ursprünglich die Absicht, meine Untersuchungen in diesen Ferien druckfertig zu machen. Ich habe zu diesem Zweck das allgemeine Eisenstein’sche R[eziprozitäts]G[esetz] vollständig bewiesen durch Erledigung der Fälle, die in Ihrer Arbeit noch offen geblieben waren36 …Ich werde nun aber wahrscheinlich warten, bis die Publikation des Herrn Artin erschienen ist.

Furtwängler hat diese seine Resultate jedoch niemals publiziert. Einer der Gründe mag gewesen sein, dass das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz seine Bedeutung als „unentbehrliches Hilfsmittel“ (wie Hilbert es noch formulierte) verloren hatte, angesichts der einfachen Herleitung des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes aus dem Artinschen Reziprozitätsgesetz mit Hilfe des Furtwänglerschen Tricks. Auch mag mitgespielt haben, dass sich inzwischen herausgestellt hatte, dass das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz für beliebige Primzahlpotenzen m = ln bereits sehr viel früher durch Western im Jahre 1908 erledigt war [Wes08]. Diese Arbeit wird weder in der Korrespondenz Artin–Hasse noch in der von Furtwängler–Hasse erwähnt, scheint ihnen also zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht bekannt gewesen zu sein. Erst Hasse in seinem Klassenkörperbericht II [Has30a] zitiert Western in diesem Zusammenhang; inzwischen hatte er also Kenntnis von der Arbeit von Western erlangt.