7.1 Die Methode von Eisenstein.

In diesem Brief geht es um den zweiten Ergänzungssatz zum Reziprozitätsgesetz für das Potenzrestsymbol, und zwar zum Exponenten ln, wobei l eine (ungerade) Primzahl ist; es wird im Körper der ln-ten Einheitswurzeln gerechnet. In den früheren Briefen aus dem Jahre 1923 ging es um den Fall n = 1. Die damals von Artin und Hasse gewonnenen Resultate fanden ihren Niederschlag in einer gemeinsamen Arbeit [AH25] aus dem Jahre 1925. Nun soll der Fall n > 1 behandelt werden, und zwar zunächst offenbar n = 2.

Wir wissen nicht, welches der von Hasse vorgeschlagene Weg gewesen ist, den Artin erwähnt und der offenbar nicht zum Ziel geführt hat. Die neue, jetzt von Artin vorgeschlagene Methode ist einer alten Arbeit von Eisenstein entnommen. Artin spricht von „der bekannten Crelle-Arbeit“ von Eisenstein. Nun hatte Eisenstein 37 Arbeiten im Crelleschen Journal. Gemeint ist offenbar die Arbeit [Eis50b] aus dem Jahre 1850, erschienen in Band 39, mit dem Titel: „Über ein einfaches Mittel zur Auffindung der höheren Reciprocitätsgesetze und der mit ihnen zu verbindenden Ergänzungssätze“. Diese Arbeit wurde schon in der gemeinsamen Note [AH25] von Artin und Hasse zum zweiten Ergänzungssatz bei Primzahlexponenten m = l zitiert. Deshalb konnte Artin in seinem Brief getrost auf „die bekannte Crelle-Arbeit von Eisenstein“ hinweisen. Er hatte ja Hasse schon vor dem 30.Juni 1923, wahrscheinlich aber schon im März 1923 anlässlich von Hasses Vortrag in Hamburg darauf hingewiesen. Das Artinsche Umdrehverfahren, das wir in 5.3 beschrieben haben, war ebenfalls im wesentlichen aus der Eisensteinschen Arbeit extrahiert.

Dass Artin ausdrücklich von der „Crelle“-Arbeit spricht, hat seinen Grund wahrscheinlich darin, dass Eisenstein im selben Jahr 1850 eine zweite, ebenfalls fundamentale Arbeit über das Reziprozitätsgesetz publizierte, die jedoch nicht im Crelleschen Journal erschien, sondern in den Berliner Akademieberichten [Eis50a].

Eisenstein hatte in seiner Arbeit gezeigt, wie man im Kreiskörper explizite Formeln für das Reziprozitätsgesetzdurch eine eigentümliche Induktion“, wie er sagt, auffinden kann – wenn man nur annimmt, dass das Reziprozitätsgesetz gewisse Grundeigenschaften besitzt. Eisenstein behandelt nur den Fall des Körpers der l-ten Einheitswurzeln, wobei l eine ungerade Primzahl ist, aber er sagt deutlich, dass dies zwar nicht der allgemeinste Fall ist, aber doch ein „Fall von großer Allgemeinheit, aus dem die unbeschränkte Anwendbarkeit des Verfahrens erhellen wird“. Das lässt wohl darauf schließen, dass er dieses Verfahren auch für den Körper der Q(zn) der ln-ten Einheitswurzeln für beliebiges n konzipiert hatte. (Dabei bedeutet zn eine primitive ln-te Einheitswurzel.) Artin führt das nunmehr für den Fall l2 durch.

Zum Umkehrfaktor (  )
 ab-( )
 ba--1 siehe Seite 60. Er ist zunächst nur dann definiert, wenn a,b zueinander und zu l prim sind. Aber schon Eisenstein bemerkt, dass man die Definition auf beliebige a,b0 ausdehnen kann, nach folgendem Prinzip:

Es sei c = 1-z gesetzt.52 c ist eine Primzahl, und zwar für den einzigen Primdivisor l von Q(z), der über der Primzahl l liegt. Als Grundannahme setzt Eisenstein voraus, dass der Umkehrfaktor in der Form zL angesetzt werden kann, wobei L = f(a,b), wie wir heute sagen würden, eine im l-adischen Sinne stetige Funktion von a,b ist, mit Werten in Z/ln.53 Demnach kann der Umkehrfaktor auch dann wohldefiniert werden, wenn a,b nicht zueinander prim sind; in diesem Falle ersetze man a,b durch hinreichend benachbarte a',b' aus Q(z), die zueinander prim sind.

Heute würden wir zL als das Hilbertsche Symbol (   )
 a,b
  l ansetzen, definiert für beliebige a,b aus der l-adischen Komplettierung Ql(z). Siehe dazu Seite 60.

Die von Artin definierten Elemente ta = 1 -ca erzeugen die Einseinheitengruppe von Ql(z) als pro-endliche Gruppe. Das erklärt, weshalb Artin für den zweiten Ergänzungssatz insbesondere auf die Symbole (  )
 c-
 ta hinaus will. Für a / =_ 0 mod l stellt sich heraus, dass (   )
  c-
  ta = 1. Deshalb steuert er sofort auf die Berechnung von (  )
 tcl2- zu.

Artin bezeichnet den Umkehrfaktor von ta und tb mit (a,b). Er ist nicht direkt definiert, weil ja ta und tb nicht teilerfremd sind, und daher muss auf die obige Beschreibung als Hilbertsches Symbol zurückgegriffen werden. Das sagt Artin allerdings nicht, weil er wohl annimmt, dass dies Hasse geläufig ist. Eisenstein selbst gibt in [Eis50b] an, wie man (a,b) zu interpretieren hat: Man ersetze ta,tb durch zueinander prime Elemente der Form 1 - kaca und 1 - kbcb wobei ka,kb  =_ 1 mod cN mit hinreichend großem N zu wählen sind.

Diese Rechnungen in Artins Brief sind direkt den Eisensteinschen Rechnungen nachvollzogen, nur jetzt eben für den Fall n = 2, was nur einen einzigen Schritt in Eisensteins „eigentümlicher Induktion“ erforderlich macht. Wir wissen nicht, weshalb Artin am Schluss nicht mehr explizit den errechneten Wert von (   )
  c--
  tl2 hinschreibt, nämlich z. Vielleicht nahm er an, dass Hasse dies schon für n = 2 wusste?

Anscheinend vermutete Artin, dass nicht nur für l2 sondern für eine beliebige ungerade Primzahlpotenz ln stets (-c-)
 tln = z ist (und = z-1 für l = 2). Denn ein Jahr später, in seinem Brief Nr.17 vom 27.10.1927 spricht Artin davon, dass die Hasseschen Rechnungen seine Vermutung (   )
 -c-
 tln = z±1 widerlegt haben. Damals arbeiteten Artin und Hasse gemeinsam an ihrer zweiten Arbeit zum Ergänzungssatz [AH28], die dann 1928 erschien.