In dem Beweis von (12) in Hasses Arbeit [Has24b] findet sich eine Stelle, wo es heißt:
Das Symbol läßt sich nun unter Verwendung einer
im Prinzip von Herrn E.Artin herrührenden Schlußweise
folgendermaßen bestimmen…
Und am Schluss der Arbeit findet sich ein Anhang, betitelt „Anmerkung“, wo es heißt:
Herr E.Artin
teilte mir kürzlich ein einfaches Rekursionsverfahren mit, das
gestattet, im Falle des quadratischen Reziprozitätsgesetzes im
rationalen Körper und des kubischen im Kreiskörper der
dritten Einheitswurzeln den zweiten Ergänzungssatz aus dem
allgemeinen Gesetz zu erschließen, und somit andeutet, dass
der in der Hilbert-Furtwänglerschen Theorie stets besonders
schwer zu beweisende zweite Ergänzungssatz auch im allgemeinen
als nicht tieferliegend anzusehen ist, als das allgemeine
Reziprozitätsgesetz und der erste Ergänzungssatz. In einer
gemeinsamen Besprechung konnten wir dann dies Verfahren
auf den Kreiskörper der -ten Einheitswurzeln übertragen. Des
Interesses halber teile ich die einfachen Überlegungen, denen der
Hauptschluss bei meinem obigen Beweis entnommen ist, hier mit
…
Demgemäß stellen wir uns die Situation so vor:
Ob nun Hasse im Hamburger Kolloquium am 1.März schon einen Beweis von
(12) vorgetragen hat, oder ob er in privater Diskussion lediglich seine Beweisidee
erläuterte, jedenfalls hat er wohl darauf hingewiesen, dass der zweite
Ergänzungssatz besonders schwer zu beweisen sei. Daraufhin hat ihm Artin
erzählt, dass es in den Fällen = 2 und
= 3 ein Verfahren gibt, das er
„Umdrehverfahren“ nannte, und das es gestattet, den zweiten Ergänzungssatz
(12) in einfacher Weise auf das allgemeine Reziprozitätsgesetz (10) und
den ersten Ergänzungssatz (11) zurückzuführen. In der anschließenden
Diskussion stellten dann beide fest, dass dieses Umdrehverfahren für einen
beliebigen Primzahlexponenten
funktioniert, jedenfalls wenn es sich um den
Einheitswurzelkörper k =
(
) handelt. Später, bei der Anfertigung des
Manuskripts [Has24b] gelang es Hasse, dieses Verfahren in seinen Beweis
einzubauen, der sich ja nicht nur auf den Einheitswurzelkörper bezieht, sondern
auf einen beliebigen Oberkörper k
(
). Als er dann dieses Manuskript an
Artin schickte, antwortete dieser ihm, wie wir das in dem Brief Nr.1
lesen:
„Zunächst möchte ich zeigen dass man Ihre schöne Formel doch nach meiner Methode herleiten kann und zwar direkt und für beliebige Körper.“
Daraus entnehmen wir:
Die Zurückführung von einem „beliebigen“ Körper k auf den Einheitswurzelkörper erledigt Artin in seinem Brief einfach durch einen Verweis auf Takagi, der das funktorielle Verhalten des Jacobischen Symbols bei änderung des Grundkörpers durch die angegebene Formel beschrieben hat. Der schlichte Verweis auf Takagi zeigt, was wir schon in der „Introduction“ erwähnt haben, dass Artin damals die Arbeiten von Takagi kannte und dies auch bei Hasse voraussetzen konnte. Artin schreibt sodann:
In (
) gilt aber, wie Sie ja wissen, dass durch das Umdrehverfahren
=
S(
) beweisbar ist…16
Dies zeigt, was wir schon oben aus der „Anmerkung“ in der Arbeit [Has24b]
gefolgert hatten, dass Hasse und Artin sich in gemeinsamem Gespräch das
Umdrehverfahren für den Einheitswurzelkörper (
) überlegt hatten.
Worin besteht denn nun eigentlich das sogenannte Umdrehverfahren? Artin erwähnt zwar im Brief Nr.1 dieses Verfahren, führt es aber nicht direkt aus. Wir können jedoch aus Hasses Arbeit [Has24b] folgendes entnehmen:
Wie bereits gesagt, erlaubt das Verfahren, den Beweis von (12) allein unter
Benutzung von (10) und (11) zu führen, ohne noch einmal auf die Details
des Hilbertschen Symbols eingehen zu müssen. Dabei wird (10) nur in
solchen Fällen benutzt, in denen beide ,
1 mod
; dann verschwindet
die rechte Seite von (10) und es ist also
=
, d.h. das Symbol
kann „umgedreht“ werden. Daher der Name des Verfahrens. Wir wissen
nicht, wer diesen Namen geprägt hatte; vielleicht war es Artin selbst
gewesen.
Gegeben sei ein Term , wie er auf der linken Seite von (12) vorkommt. In
einem ersten Schritt soll dieser zu einem Term
verwandelt werden, wobei
'
in gewisser Weise von einfacherer Bauart ist.
Da es wegen > 2 im Jacobischen Symbol auf ein Minuszeichen nicht
ankommt, kann
durch -
ersetzt werden. Weiter kommt es im Jacobischen
Symbol nur auf die Restklasse des „Zählers“ modulo „Nenner“ an, es kann also
-
im Zähler durch
-
ersetzt werden. Demgemäß kann
wie folgt
transformiert werden:
![]() | (13) |
wobei wir die Stelle des „Umdrehens“ mit einem Pfeil gekennzeichnet haben.
Inwiefern ist nun
' =
-
von einfacherer Bauart als
?
Da
1 mod
können wir schreiben:
die Koeffizienten ci von =
sind ganze Zahlen in
.17
Für
' =
-
gilt
Wenn also c0 > 0, dann besitzt ' einen kleineren Koeffizienten c'0 = c0 - 1 als
.
Durch Iteration dieses Verfahrens kann dann dieser Koeffizient c0 zum
Verschwinden gebracht werden. Sollte aber ursprünglich c0 < 0 gewesen sein, so
führe man die ganze Konstruktion mit -
statt
durch; anstelle von (13) erhalten
wir dann
und wir sehen, dass dann der Koeffizient c0 durch c0 + 1 ersetzt wird; durch
Iteration wird also auch in diesem Falle der konstante Koeffizient von zum
Verschwinden gebracht. Um weiter den Koeffizienten c1 zum Verschwinden zu
bringen, führt man die Umdrehungsoperation (13) für
anstelle von
durch:
und jetzt ist der Koeffizient c'1 von ' =
betragsmäßig um 1 kleiner als c1.
Das ergibt für
eine Umwandlung, bei der noch Faktoren der Form
hinzutreten:
Durch Iteration kann jetzt c1 zum Verschwinden gebracht werden, wobei endlich
viele Produkte der Form hinzutreten. Ersetzt man
durch
i so kann auf
dieselbe Weise auch der i-te Koeffizient ci zum Verschwinden gebracht werden,
wobei ein Produkt von Faktoren der Form
i hinzutritt. Wenn schließlich alle
Koeffizienten ci zum Verschwinden gebracht worden sind, so bleibt
= 1,
also
wobei in genau angebbarer Weise von
abhängt. Die rechte Seite kann mit
Hilfe des ersten Ergänzungssatzes (11) ausgewertet werden, wodurch sich dann
die Formel (12) des zweiten Ergänzungssatzes ergibt.
Wir haben dieses Umdrehverfahren hier etwas genauer ausgeführt, um zu
erläutern, wovon Artin im ersten Brief spricht. In den folgenden vier Briefen von
Artin spielt es jedoch keine Rolle mehr, weil es sich schließlich ergibt, dass die
Henselschen -adischen Methoden (Logarithmus) wohl doch übersichtlicher
sind.
Übrigens war das Artinsche Umdrehverfahren nicht neu. Es findet sich in den wesentlichen Grundzügen schon in der alten Arbeit [Eis50b] von Eisenstein aus dem Jahre 1850. Diese wird sowohl bei Hasse [Has24b] als auch in der gemeinsamen Arbeit [AH25] zitiert. Offenbar war es Artin gewesen, der Hasse auf die Eisensteinsche Arbeit aufmerksam gemacht hatte, denn in einem späteren Artikel [Has29] bedankt sich Hasse bei Artin für den Hinweis auf jene Arbeit.