Die Formel (12) ist zwar vom Typus des zweiten Ergänzungssatzes, aber sie
stellt noch nicht die schärfste Form dieses Satzes dar. Denn erstens erscheint die
dortige Kongruenzbedingung
1 mod
zu stark; gewünscht ist eine Formel,
die im „Nenner“ des Jacobischen Symbols beliebige zu
prime Elemente
zulässt. Und zweitens sollte im „Zähler“ ein beliebiges Element zugelassen sein,
das sich nur aus Primteilern
von
zusammensetzt.
In den ersten 5 Briefen Artins erleben wir die Suche nach solcherart
Verallgemeinerung. Und zwar zunächst für den -ten Einheitswurzelkörper
k =
(
). In diesem gibt es nur einen einzigen Primteiler
von
. Dies ist ein
Hauptdivisor
= (
), erzeugt von dem Primelement
= 1 -
, und es ist
(
)
-1 = (
).
Schon im ersten Brief wird es klar, dass Artin es nicht bei der „schönen
Formel“ (12) von Hasse belassen will. Sondern er versucht, die in (12) auftretende
Kongruenzbedingung
1 mod
abzuschwächen, indem er nur
1 mod
verlangt. Er ist so angetan von seinem Ergebnis, dass er mit Emphase ausruft:
„Nun aber kommt das Schöne! “ und das Ergebnis einrahmt. Allerdings muss er
bald nach Absendung des Briefes einsehen, dass in seiner Rechnung ein Fehler
steckte, und er sendet noch am selben Tag eine Postkarte hinterher mit der
richtigen Formel.
Aber auch diese ist noch nicht endgültig. An einem der nächsten Tage (der
Brief trägt kein Datum) schickt Artin eine Formel für
1 mod
statt
1 mod
. Nun ist keine Rede mehr von dem Umdrehverfahren; die
Rechnungen sind kunstvoll, langwierig und unübersichtlich. Es tauchen dabei
Reihen auf, die als Anfänge von Logarithmen-Reihen gedeutet werden können.
Artin hofft, dass diese dritte Mitteilung die letzte ist; gemeint ist natürlich die
letzte vor seinem Wochenend-Besuch bei Hasse in Kiel, zu dem er am Samstag,
den 14.Juli 1923 fahren will. Aber Hasse hatte offenbar sofort auf Artins Brief
geantwortet, und so gibt es daraufhin doch noch eine weitere Mitteilung
(wiederum ohne Datum).
Wir wissen nicht, was Hasse geschrieben hatte. Wir lesen aber in
Artins Brief, dass Hasses „Herleitung selbstverständlich einfacher“ ist.
Und wir bemerken, dass Artin jetzt -adische Logarithmen verwendet. Er
schreibt, dass er Fortschritte in
-adik macht. Daraus kann man vielleicht
schließen, dass Hasse ihn auf die Vorzüge des
-adischen Rechnens und
insbesondere auf den
-adischen Logarithmus aufmerksam gemacht hatte, der ja
implizit schon in den Artinschen Rechnungen des vorangegangenen Briefes
vorkam.
Die neue Formel von Artin gilt für
1 mod
2. Es war ihm also gelungen,
die Kongruenzbedingung noch weiter herunterzudrücken. Im Zähler des
Jacobischen Symbols steht jetzt nicht
sondern
. Wir erinnern daran, dass
ein
Primelement für den einzigen Primteiler
von
in
(
) ist. Also ist jede Zahl
aus
(
), die sich nur aus Primteilern von
zusammensetzt, bis auf einen
Einheitsfaktor eine Potenz von
, und im Prinzip lässt sich daher das Symbol
mit Hilfe von
berechnen.
Insbesondere gilt das für =
. In einer weiteren Mitteilung, welche jetzt die
Nummer VIII trägt, führt Artin dies für
im Detail aus. Vielleicht hatte ihn
Hasse danach gefragt? Diesmal handelt es sich um eine Postkarte, und
aus dem Poststempel können wir das Absendedatum ersehen: es war am
Donnerstag, dem 12.Juli 1923, zwei Tage vor Artins Besuch bei Hasse am
Samstag.
Aber auch diese Ergebnisse waren noch nicht endgültig. Während
Artins Besuch bei Hasse in Kiel wurden offenbar die Details noch einmal
durchgesprochen und es stellte sich eine Formel heraus, die für beliebige
1 mod
gilt. Diese Kongruenzbedingung ist jedoch nicht einschneidend, denn
für eine beliebige, zu
prime Zahl
aus
(
) gilt
-1
1 mod
und
=
-1.
Die endgültigen Formeln stehen in der gemeinsamen Arbeit [AH25]18 und lauten wie folgt. Die Situation ist dieselbe wie in (12).
![]() | (14) |
und:
![]() | (15) |
Bemerkenswert an diesem Ergebnis ist, dass in diesen Formeln der -adische
Logarithmus vorkommt, der für
1 mod
definiert ist.
In einer Fußnote zu dieser Arbeit heißt es:
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind im Sommer 1923 in einem Briefwechsel und mündlichen Besprechungen zwischen den beiden Verfassern entstanden. Ausarbeitung und Darstellung übernahm der jüngere von ihnen.
Der jüngere war Hasse.
Die Formeln (14) und (15) sind im Einheitswurzelkörper (
) als die
feinstmögliche Formulierung des zweiten Ergänzungssatzes und somit als
endgültig zu betrachten. Sie gelten wörtlich auch in Oberkörpern k
(
),
worauf in [AH25] eigens hingewiesen wird; S bedeutet dann die Spur von k nach
. Die Zurückführung auf den Einheitswurzelkörper erfolgt mit der bereits im
Brief Nr.1 von Artin mit Hinweis auf Takagi erwähnten funktoriellen
Eigenschaft des Jacobischen Symbols, die Erweiterung des Grundkörpers
betreffend.
Aber in einem solchen Oberkörper k ist (14) i.allg. nicht mehr die
feinstmögliche Formulierung, weil ja in k der Primdivisor = 1 -
von
(
)
noch zerfallen kann und dann noch diejenigen Potenzrestsymbole auszudrücken
bleiben, deren Zähler einen Primfaktor
von
nur einmal enthalten. Dieser
Aufgabe hat sich Hasse in einer weiteren Arbeit [Has25b] unterzogen, die noch im
selben Band des Crelleschen Journals erschienen ist. Allerdings hat Hasse dabei
nur solche Körper k in den Griff bekommen, in denen der Primdivisor
von
(
)
unverzweigt ist.