17 27.10.1927, Brief von Artin an Hasse

Hamburg, 27. Oktober 1927

Lieber Herr Hasse!

Ich bin leider erst vorgestern wieder hier angekommen145 , so dass ich erst jetzt Ihre Sendung hier vorfand. Besten Dank. Ich wüsste nicht was ich am Manuskript ändern sollte. Einige kleine Bemerkungen die ich Ihnen noch schreiben wollte fand ich von selbst darin vor, so dass sich auch das erübrigt hat. Neu und amüsant finde ich auch noch Ihre letzte Rechnung (        )
  ---c-n-
  1-  cl, da sie mir gleich eine Vermutung = z±1 widerlegt. Die Arbeit kommt in unser nächstes Heft, mit dessen Druck bald begonnen wird. 146

Nun muss ich noch Ihren letzten Brief nach Reichenberg beantworten.147 Mich haben die Ausführungen sehr interessiert, vor allem deshalb, weil sie doch zeigen dass man möglicherweise durchkommt. Man müsste meines Erachtens einmal die ganze Primzahltheorie mit p(x) <  ? durchackern statt mit p(x) = A + O( ) und die Abschätzungen so gut wie möglich machen. Einerseits ist es wegen des fehlenden sehr bequemen O schwerer, andrerseits aber leichter als ich ursprünglich dachte, da ich glaubte, man müsse die Konstante im O-Glied bestimmen. Es genügt aber schon ein p(x) <   und das ist viel einfacher. Leider habe ich momentan keinen Doktoranden, der sich für diese Dinge interessiert. Wie steht es damit bei Ihnen?

Auch ich habe mich übrigens (ohne Erfolg) um ( l)
  --
  a und (ci )
  --
  a bemüht. Es wird wohl keine einfache Formel geben.

Ich komme jetzt zu Ihrem letzten Brief. Ich muss sagen, da staune ich. Erstens dass Sie auf dem Wege durchgekommen sind (ich hätte das garnicht gewagt) und zweitens über die merkwürdige Bauart der Formel.148 Ich konnte bisher natürlich noch nicht über sie nachdenken, Sie wissen ja, wie es in den ersten Tagen nach der Rückkehr zugeht, aber hoffe in den nächsten Tagen dazu zu kommen. Bis dahin sind Sie ja natürlich schon wieder viel weiter gekommen. Denn wenn Sie einmal so weit sind, wird es auch noch gehen. Ich bin schon ausserordentlich gespannt auf Ihren nächsten Brief.

Hecke habe ich vom zweiten Erg[änzungs]satz erzählt. Er war sehr erstaunt darüber dass es geht. Ich muss ja nun doch sagen, dass wir ein bisschen Glück bei der Sache hatten.

Ich lege Ihnen den versprochenen Beweis über die Einheiten in Körpern bei. Sie erinnern sich wohl noch. Hoffentlich gefällt Ihnen die Anordnung. 149

Nun muss ich Ihnen nochmals meinen herzlichen Dank aussprechen für die liebenswürdige und grosse Gastfreundschaft. Ich habe noch die ganze Zeit im langweiligen Reichenberg davon geschwelgt.

Hoffentlich kann ich nun bald wieder an die Arbeit kommen und Ihnen was ordentliches erzählen.

Mit einer Empfehlung an Frau Gemahlin und besten Grüssen

      Ihr Artin

Darf man Ihnen schon gratulieren? 150

Beilage zum Brief Nr.17:

Ich schicke einen von Minkowski stammenden Hilfssatz voraus:

Hilfssatz: Die Matrix (aik)i,k=1,,r habe folgende Eigenschaften: aii > 0 dagegen aik < 0 für ik, und ferner für jedes k sei  sum n=1rank > 0. Dann gilt: |aik|0.

Beweis: (von Furtwängler) Andernfalls wäre das Gleichungssystem
 sum k=1raiktk = 0  (i = 1,,r) in nicht trivialer Weise lösbar. Man darf annehmen, dass unter den ti positive Zahlen vorkommen und zwar (wegen der Symmetrie der Voraussetzungen), dass etwa t1,t2,,ts > 0 sind, dagegen alle übrigen < 0.

Man addiere die ersten s Gleichungen und erhält:

   sum s        sum  s             sum s             sum s
t1   ai1 + t2   ai2 + ...+ ts   ais + ...+ tr   air = 0 .
  i=1        i=1             i=1            i=1
(1)

Was weiss man nun über  sum i=1saik ? Wäre die Summe bis r erstreckt, so wäre sie nach Annahme > 0. Wenn nun k < s sind, fehlen in der tatsächlich vorkommenden Summe nur negative Glieder, sie ist also erst recht > 0. Für k > s aber besteht die Summe aus lauter negativen Gliedern, sie ist also < 0. Nun erkennt man, dass in (1) kein Glied linker Hand negativ, die ersten s Glieder sogar positiv sind. Widerspruch! q.e.d.

Es sei jetzt k unser Zahlkörper n-ten Grades und w1,w2,,wn eine Minimalbasis. Man fasse die wi als hyperkomplexe Zahlen auf und bilde bei beliebigen reellen xi die Zahl

x = x1w1 + x2 w2 + ...+ xn wn
Der Zahl x ordne man zu den Punkt mit den Koordinaten x1,x2,,xn im Rn.

Wir erweitern vorübergehend den Begriff „Hauptideal“ indem wir auch das von x erzeugte Hauptideal ins Auge fassen. Es bestehe (x) aus allen Vielfachen von x, also xg, wo g alle ganzen Körperzahlen durchläuft. Wenn x selbst ganze oder gebrochene Körperzahl ist, bildet (x) ein Gitter mit dem Maschenvolumen |Nx|. Ist x beliebig, so gilt aus Stetigkeitsgründen dasselbe (in der Nähe von x liegen Körperzahlen) nur muss, damit ein Gitter entsteht, natürlich Nx0 sein.

Man betrachte nun (q = q1w1 + + qnwn gesetzt, wo q wieder eine beliebige allgemeine Zahl ist) den Würfel |qi|< V~ n|N-x|. Sein Volumen ist 2n |Nx| so dass er einen vom Ursprung verschiedenen Gitterpunkt des Ideals (x) enthält. Also gibt es ein ganzes g0 aus k, so dass, q = xg gesetzt, |qi|<n V~  -----
  |N x| ist.

Nun ist Nq eine ganze rationale homogene Funktion n-ten Grades in den qi. Ist also C das Maximum von |Nq| für |qi|< 1, so ist C . hn das Maximum von |Nq| für |qi|< h. Also gilt:

Es gibt eine nur von k abhängige Zahl C, von der Art, dass bei beliebigem x eine ganze Zahl g existiert so dass für q = xg gilt:

      n V~  -----
|qi| <   |N x| und    |N q|<  C .|N x|.
(2)

Daraus folgt |Nxg|< C .|Nx|, also |Ng|< C .

Man betrachte nun (g hängt ja noch von x ab) die von den möglichen g erzeugten Hauptideale (g). Da sie von beschränkter Norm sind, gibt es nur endlich viele, etwa: (m1), (m2),,(mk). Wir wissen jetzt, dass es bei beliebigem x stets eines von unseren mi gibt, sowie eine Einheit e, derart dass für q = xemi die Ungleichungen (2) bestehen.

Es sei q = q1w1 + q2w2 + + qnwn und j = qmi-1 = xe. Bei dieser Multiplikation mit mi-1 (einer gewissen unserer k festen Zahlen m1,,mk) werden die qi durch passende Linearkombinationen ji ersetzt. Da nur endlich viele mi in Frage kommen, sind die Koeffizienten dieser Linearkombinationen beschränkt und da |qi|< V~ -----
n |N x| ist, folgt für die ji wenigstens eine Abschätzung der Form |ji|< D .  -----
n V~  |N x|, wo D eine absolute Konstante ist:

Satz 1 Es gibt eine nur von k abhängige Konstante D von der Art, dass es zu jeder Zahl x mit Nx0 eine Einheit e gibt, so dass, j = xe = j1w1 + + jnwn gesetzt, gilt

         n V~  -----
|ji|< D  .  |Nx |.
Angewendet auf „allgemeine Zahlen“ x mit |Nx| = 1 heisst das, dass sich jede solche Zahl durch Multiplikation mit einer passenden Einheit in einen festen endlichen Volumteil schaffen lässt.

Sie sehen auch, dass dieser Satz wörtlich für Schiefkörper gilt.

Aus ihm ergeben sich nun leicht im Falle eines Zahlkörpers die üblichen Existenzsätze über Einheiten.

Man denke sich nämlich die Körper in der üblichen Weise angeordnet: Erst r1 reelle, dann r2 komplexe, dann die dazu konjugiert komplexen. Man bilde

(3)

x(1) = w1(1)x1 + w2(1)x2 + + wn(1)xn
x(2) = w1(2)x1 + w2(2)x2 + + wn(2)xn
..................................... .
x(n) = w1(n)x1 + w2(n)x2 + + wn(n)xn

Dabei denke man sich x(1), als wirkliche Zahlen und nicht mehr als hyperkomplexe. Das ist ja übrigens damit gleichwertig, wenn unter x immer gleich das System der Konjugierten verstanden wird. Die linken Seiten in (3) dürfen beliebig reell vorgeschrieben werden, wenn nur für konjugiert komplexe Konjugierte dieselbe reelle Zahl genommen wird. Dies gibt für die linken Seiten r + 1 Möglichkeiten (r = r1 + r2 - 1).

Man wähle nun r dieser r + 1 Zahlen „enorm gross“ und bestimme die (r + 1)-te so, dass |Nx| = |x(1)||x(n)| = 1 wird. Zu diesem x gibt es eine Einheit e, so dass die Koordinaten von xe absolut kleiner D sind (|Nx| = 1). Wenn nun die Koordinaten von xe beschränkt sind, so haben die Konjugierten x(i)e(i) auch „bescheidene“ Werte, da sie nur Linearformen der Koordinaten sind. Folglich muss e(i) auf diejenigen Konjugierten x(i) verkleinernd gewirkt haben, die „enorm gross“ gewählt wurden. Für diese muss |e(i)| < 1 sein. Die restliche (oder beide restlichen – falls konjugiert imaginär) Konjugierte |e(i)| muss jetzt > 1 sein, damit |Ne| = 1 ist. Diese restliche kann unter den ersten r + 1 beliebig ausgewählt werden:

Satz 2. Bei beliebig gegebenem i zwischen 1 und r + 1 gibt es eine Einheit ei für die gilt:

|e(k)|<  1 wenn  k /= i, k < r + 1; dagegen  |e(i)|> 1 .
  i                                         i
So erhält man r + 1 Einheiten e1,e2,,er+1. Von diesen behalte man nur die ersten r.

Ist e eine beliebige Einheit, so setze man

                          {
             (i)            1  wenn  ki reell
li(e) = dilog |e    wo   di =  2  wenn  ki imaginär  ist.

Dabei sei 1 < i < r+1. Kennt man die Logarithmen, so kennt man auch |e(i)| und zwar für alle i < r.151 Haben Einheiten gleiche Logarithmen, so hat ihr Quotient die Logarithmen Null. Dann ist |e(i)| = 1, also e eine Einheitswurzel, was wie üblich leicht bewiesen wird.

Durch Angabe der Log[arithmen] ist also eine Einheit bis auf Einheitswurzeln bestimmt. Es genügt aber wegen  sum i=1r+1li(e) = log |Ne| = log 1 = 0, die ersten r Logarithmen zu kennen.

Man nehme nun einen r-dimensionalen Raum und ordne jeder Einheit e zu den Vektor mit den Komponenten xi = li(e). Diese Vektoren bilden eine additive Gruppe. Beschränkte xi bedeuten beschränkte Logarithmen (auch der r + 1-te wegen der Relation) also beschränkte Beträge der Konjugierten. Da es ganze Körperzahlen sind, tun dies nur endlich viele. In einem endlichen Volumteil liegen somit nur endlich viele. Also bilden unsere Vektoren einen Vektormodul ohne Häufungspunkte, also ein Gitter. Bleibt zu zeigen, dass es r-dimensional ist, dass es also r linear unabhängige Vektoren gibt. Das tun nun die e1,e2,,er. Denn es ist li(ek) < 0 für ik dagegen li(ei) > 0.

Ferner ist  sum n=1rln(ei) = log |Ne|- lr+1(ei) = -lr+1(ei) > 0, da wegen ir + 1 stets lr+1(ei) < 0 ist. Hilfssatz zeigt jetzt |li(ek)|0.
q.e.d.

Das ist doch alles ganz gut zu verstehen und, wie mir scheint, besser als mit den bisherigen Beweisen. Sie überlegen sich leicht, wie man im Kolleg die Klippe mit hyperkomplex umgeht, was nicht schwer ist.

Natürlich ist auch klar, dass prinzipiell auch im letzten Teil keine Logarithmen erforderlich sind, doch wäre eine Vermeidung nur gekünstelt und wenigstens bei diesem Beweis nicht am Platze.

Satz 1 ist meines Erachtens nach bereits die wesentliche Existenzaussage. Dass bei den Zahlkörpern ihre genauere Struktur noch hinzu kommen muss um zu den üblichen Sätzen zu gelangen ist ja selbstverständlich.

Kommentare zum Brief Nr.17:

Artin antwortet in diesem Brief auf drei Sendungen von Hasse. Und zwar:

  1. Die Sendung, die, wie Artin schreibt, er erst jetzt nach seiner Ankunft in Hamburg vorgefunden hat. Es handelt sich um das Manuskript der gemeinsamen Arbeit über die beiden Ergänzungssätze. Hasse hatte die Redaktion der Arbeit übernommen, und jetzt schickt er das Manuskript, das in den Hamburger Abhandlungen erscheinen soll. Wir werden das in 17.1 kommentieren.
  2. Hasses „letzter Brief nach Reichenberg“.152 Artins Antwort darauf findet sich in Absatz 2 des Artinschen Briefes. Es geht um die Artinsche Vermutung über Primitivwurzeln. Wir werden dies in 17.2 kommentieren.
  3. Hasses „letzter Brief“, offenbar nicht nach Reichenberg, sondern direkt nach Hamburg. Artins Antwort findet sich in Absatz 4 seines Briefes. Eine mögliche Interpretation werden wir in 17.3 geben.
  17.1 Gemeinsame Arbeit über die Ergänzungssätze
  17.2 Artins Vermutung über Primitivwurzeln
  17.3 Explizite Formeln für das Reziprozitätsgesetz
  17.4 Minkowski und Einheitensatz