17.2 Artins Vermutung über Primitivwurzeln

Der zweite Absatz des Briefes ist auf den ersten Blick unverständlich. Wir haben ihn jedoch interpretieren können durch Heranziehung des Hasseschen Tagebuchs.

Wir bemerken: Im vorangegangenen Brief Nr.16 vom 4.9.1927 hatte Artin mitgeteilt, dass sich seine Reisepläne geändert hätten und er beabsichtige, am 13.9.1927 in Halle einzutreffen. In Hasses Tagebuch finden sich zwei Eintragungen unter dem Datum vom 13.September 1927 mit dem Vermerk: „Nach mündlicher Mitteilung von Artin“.

Zusammengenommen schliessen wir daraus, dass Artin am 13.September einen Besuch bei Hasse in Halle machte, auf dem Weg in seine Heimatstadt Reichenberg.

Eine der beiden genannten Tagebuch-Eintragungen trägt die Überschrift:

Die Dichte der Primzahlen p, für die a primitive Wurzel ist.

Dort also, in Halle am 13.9.1927, hat Artin seine berühmte Vermutung über Primitivwurzeln ausgesprochen, und das Hassesche Tagebuch ist das erste Dokument, in dem diese Vermutung formuliert ist. Wir können demnach den 13.September 1927 als den „Geburtstag“ der Artinschen Vermutung ansehen.

Die Vermutung besagt: Ist a  (- Z kein Quadrat und ist a ± 1, dann gibt es unendlich viele Primzahlen p, für welche a Primitivwurzel modulo p ist. Und zwar besitzt die Menge dieser p eine Dichte. Wenn a keine Potenz einer kleineren Zahl ist, so vermutete Artin die Dichte

       (            )
d =  prod    1-  ---1----
             q(q- 1)
     q
wobei sich das Produkt über alle Primzahlen q erstreckt. Diese Zahl d wird heute „Artin-Konstante“ genannt, und sie ist numerisch ziemlich genau bekannt. Hasse bemerkt in seinem Tagebuch, dass 1
4 < d < -5
12 .

Es wäre natürlich interessant zu wissen, in welchem Zusammenhang Artin auf diese Vermutung gestoßen ist und welches Problem Anlass dazu gegeben hat. Dazu gibt es einige Anhaltspunkte, die aus dem Hasseschen Tagebuch und seine kurz davor liegenden Publikationen entnommen werden können. Wir werden darauf an anderer Stelle zurückkommen.

Etwas später, am 28.9.1927, kommt Hasse in seinem Tagebuch noch einmal auf die Artinsche Vermutung zu sprechen156 und bemerkt folgendes: Sei p(x) die Anzahl der Primzahlen < x und pq(x) die Anzahl derjenigen Primzahlen p < x, welche im Körper Q(zq, V~ -
qa) zerfallen, dann würde es zum Beweis der Artinschen Vermutung genügen, zu zeigen dass

pq(x) <  ---c----   für alle q, x
 p(x)    q(q - 1)

ist, wobei die Konstante c von q und x unabhängig ist.

Offenbar ist es dies, was Hasse in seinem Brief nach Reichenberg geschrieben hatte, und worauf Artin im vorliegenden Brief antwortet. Artin sagt, man müsse einmal die ganze Primzahltheorie mit p(x) <  ? durchackern und die Abschätzungen so gut wie möglich machen.

Artin schlägt vor, einen Doktoranden für dieses Thema zu interessieren und fragt an, ob Hasse vielleicht einen solchen Doktoranden habe. Erst einige Jahre später hat Hasse einem seiner Doktoranden, nämlich Herbert Bilharz, vorgeschlagen, die Artinsche Vermutung zu bearbeiten. Es stellte sich jedoch heraus, dass Bilharz beträchtliche Schwierigkeiten bei diesem Thema hatte; außerdem erfuhr Hasse durch Davenport, dass sich auch ein junger ungarischer Mathematiker namens Paul Erdös mit dem Thema beschäftigte und, wie es schien, schon beträchtliche Fortschritte erzielt hatte. Daher änderte Hasse das Thema für seinen Doktoranden Bilharz dahingehend ab, dass die entsprechende Frage für Funktionenkörper mit endlichem Konstantenkörper bearbeitet werden solle. Nach einiger Zeit (und unter kräftiger Mithilfe von Hasse) konnte Bilharz dann das Analogon der Artinschen Vermutung für Funktionenkörper beweisen – unter Annahme der Riemannschen Vermutung für Funktionenkörper, die zwar damals noch nicht allgemein bewiesen war, jedoch später von A.Weil bestätigt wurde [Wei48]. Die Arbeit von Bilharz erschien 1937 in den Mathematischen Annalen [Bil37].157

Übrigens ist aus dem Ansatz von Erdös auch nichts geworden. In einem Brief an Hasse vom 14.4.1935 schreibt er:

Ich habe meinen Beweis durchgedacht. Der Beweis beruht auf einem Satz, welcher – wie es mir scheint – eine Folge der verallgemeinerten Riemannschen Vermutung ist. Um dies zu entscheiden, kenne ich die analytische Idealtheorie nicht genügend gut. Davenport hielt den Satz für wahrscheinlich, doch war er auch unschlüssig

Später ist Erdös nicht mehr darauf zurückgekommen.

Im Falle von Bilharz, also in Funktionenkörpern, müssen andere Ansätze für die Dichte der betreffenden Primdivisoren genommen werden. Das war von Anfang an klar, weil sich nämlich die Automorphismengruppen von Einheitswurzelkörpern im Falle von Primzahlcharakteristik anders verhalten als bei Charakteristik 0. Aber auch in Zahlkörpern stellte sich schliesslich heraus, dass die von Artin vermutungsweise angegebene Dichte im allgemeinen nicht stimmt, sondern in einigen Fällen modifiziert werden muss, z.Bsp. wenn a eine Primzahl  =_ 1 mod 4 ist. Artin selbst hat diese Modifikation 1953 in einem Brief an Emma Lehmer vorgenommen, nachdem er von dieser informiert worden war, dass seine Vermutung nicht recht mit den numerisch berechneten Werten übereinstimmte.158 Siehe dazu [Ste03].

Auch nach der Korrektur der zu erwartenden Primzahldichten hat sich die Artinsche Vermutung als sehr schwierig erwiesen. Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen die Geschichte nachzuzeichnen. 1967 gelang es Hooley [Hoo67], die Vermutung unter Annahme der verallgemeinerten Riemannschen Vermutung zu beweisen – jedoch ohne den von Erdös vermuteten Satz. (Bei Hooley handelt es sich um die klassische Riemannsche Vermutung, also nicht um das Analogon für Funktionenkörper.) Später gelang Heath-Brown [HB86] u.a. für Primzahlen „fast“ ein Beweis, in dem Sinne, dass es höchstens 2 Primzahlen a gibt, für welche die Artinsche Vermutung falsch ist. Man weiß allerdings nicht, welches diese evtl. Ausnahmen sind, wenn es sie überhaupt gibt.

Zur Artinschen Vermutung siehe auch [Mur88]. Für Verallgemeinerungen verweisen wir auf [Len77].