14.2 Die schöne Formel und Artin-Schreier

Es geht um das Potenzrestsymbol für einen Primzahlpotenz-Exponenten m = ln. Der Grundkörper k enthalte die m-ten Einheitswurzeln. Das Primideal p sei im Körper K = k(m V~ m-) unverzweigt, d.h. m sei „primär“ für p. Dann ist nach Hasse das erweiterte Potenzrestsymbol (m-)
  p durch die folgende Formel definiert (siehe 10.2):

(  )       V~ --
  m- =  sp m-m-;
  p      m V~  m
(26)

wobei sp den zu p gehörigen Frobenius-Automorphismus bedeutet. Wenn p nicht in m aufgeht, dann kann ( )
 ap- auch durch die klassische Eulersche Kongruenz charakterisiert werden (siehe (1), Seite 54):

(   )
  m-   =_  m|pm|-1 mod p .
  p
(27)

Dies ist die Formel, die meist in den gängigen Darstellungen der klassischen Reziprozitätgesetze angegeben wird. Sie versagt jedoch wenn p ein Primidealteiler von l ist. Die Primteiler von l im Körper k werden bei Artin und Hasse stets mit l bezeichnet. Im Zusammenhang mit dem zweiten Ergänzungssatz zum Reziprozitätsgesetz sucht man nun nach einer Kongruenz modulo einer geeigneten Potenz von l, die das Potenzrestsymbol (m)
 l in entsprechender Weise kennzeichnet – immer unter der Voraussetzung, dass l in k(m V~ -
  m) unverzweigt, also m primär für l ist.

Für den Fall n = 1 (also m = l) hat Hasse in [Has27e]111 eine solche Formel gefunden, nämlich

(m )           (m - 1 )
 l-  =_  1- c1S l -lc--   mod lc1
                    1
(28)

mit folgenden Bezeichnungen:112

Es wird dabei vorausgesetzt, dass m  =_ 1 mod lc1, was keine wesentliche Einschränkung bedeutet. Denn m ist genau dann primär für m = l, wenn m bis auf einen l-Potenzfaktor der Kongruenz m  =_ 1 mod lc1 genügt.

Artin sagt in seinem Brief, dass er auch schon über eine solche Formel nachgedacht habe, dass er sich aber noch nicht überlegt habe, „welche Zahl zu nehmen ist“. Diese „Zahl“ ist nun nach Hasse q = m-lc11-. Artin bezeichnet die Formel (28) als „schöne“ Formel und fragt, ob sie neu ist.113 In Artins Brief wird die Formel nicht explizit hingeschrieben, er bezieht sich auf Hasses vorangegangenen Brief, den wir nicht kennen. Hasse hatte diese Formel offenbar in seinem Brief mitgeteilt; möglicherweise hatte Hasse sogar schon das Manuskript seiner Arbeit [Has27e] fertiggestellt und Artin eine Kopie oder die Korrekturfahnen dazu geschickt.

Wie Hasse in der genannten Crelle-Arbeit zeigt, kann man der Formel (28) auch die Form

(  )    Sl(m---1)
 m-  = z    lc1
  l     1
(29)

geben. Vielleicht war es diese, die Artin als „schöne Formel“ bezeichnete?

Die Formeln (28), (29) gelten, wie gesagt, für einen Primzahlexponenten m = l. Artin diskutiert in seinem Brief nun einen Ansatz für m = l2. Wir können annehmen, dass Hasse angefragt hatte, ob Artin eine Idee hätte, wie man die Formeln für Primzahlpotenz-Exponenten m = ln mit beliebigem n verallgemeinern könnte, und dass dies die Antwort von Artin ist.

In seiner Diskussion setzt Artin voraus, nicht nur dass l unverzweigt ist in k( V~ 2-
l m), sondern auch, dass l in k(2 V~  --
l m) unzerlegt ist; das bedeutet, dass der Trägheitsgrad den maximalen Wert l2 annimmt und also die Frobenius-Substitution sl die Ordnung l2 besitzt. Artin bezeichnet dies als den „schärfsten Fall.“

Es ist nun außerordentlich bemerkenswert und von großer Tragweite, dass Artin ein Resultat ins Spiel bringt, das er vor kurzem zusammen mit Otto Schreier in einem völlig anderen Zusammenhang erarbeitet hatte, nämlich die heute so genannte Artin-Schreier-Erzeugung von zyklischen Körpern l-ten Grades der Charakteristik l. Dieses Resultat ist enthalten in der Arbeit „Eine Kennzeichnung der reell abgeschlossenen Körper[AS27], die soeben im, wie Artin sagt, „Parteiblättchen“ erschienen war, also in den Hamburger Abhandlungen. Artin bemerkt, dass die Zahl

     V~ -
    lm---1-
q =   c1

aus dem Körper k(l V~ m-) in dessen Restklassenkörper gerade eine Artin-Schreier-Erzeugende liefert und gibt die zugehörige Kongruenz mod l explizit an, nämlich

ql- q  =_  m--l1 mod l.
          c1

Diese Kongruenz findet sich übrigens auch in der o.g. Arbeit von Hasse [Has27e], ohne allerdings dass Hasse den Zusammenhang mit der Artin-Schreier-Theorie erwähnte, die er damals wahrscheinlich noch nicht gekannt hatte.

Der Artinsche Ansatz im vorliegenden Brief geht nun davon aus, dass er in der erwähnten Arbeit mit Schreier auch zyklische Körpererweiterungen von Grad l2 in Charakteristik l behandelt hatte. In der Tat hatten Artin und Schreier gezeigt, dass in Charakteristik l jede zyklische Erweiterung vom Grad l in eine zyklische Erweiterung vom Grad l2 eingebettet werden kann, und sie hatten die Bedingung für die zugehörigen Artin-Schreier-Erzeugenden j in der zweiten Stufe angegeben. Die Arbeit von Artin-Schreier war zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Briefes noch so frisch, dass Artin bei Hasse nicht deren Kenntnis voraussetzen konnte; deshalb erläutert er in seinem Brief den Sachverhalt genauer.

Artin spricht von „der von Ihnen gesuchten Zahl“. Offenbar suchte Hasse eine Zahl j, die im Falle m = l2 denselben Dienst leistet wie das obige q im Falle m = l. Artin gibt nun einen Ansatz für die Zahl j, indem er die Kongruenzeigenschaften von j modulo l beschreibt, gestützt auf die Ergebnisse der Artin-Schreier-Arbeit. Aber er gibt keine explizite Form für ein solches j an, er hofft nur, dass Hasse mit diesen Eigenschaften „etwas anfangen kann“.

Als Nebenbemerkung erfahren wir, dass Artin und Schreier viel gerechnet hatten, um zu ihrem in der Publikation so einfach erscheinenden und einleuchtenden Ergebnis für zyklische Körper in Primzahl-Charakteristik zu kommen. Artin spricht von der „Rechenarbeit, die wir hinter uns haben, und die vergeblich war“.

14.2.1 Die weitere Entwicklung

Wie es scheint, wurde der Ansatz von Artin zunächst nicht weiter verfolgt, weder von Hasse noch von Artin selbst. Ein Grund wird wohl gewesen sein, dass man die Erzeugung der zyklischen Körper vom l-Potenzgrad ln in Charakteristik l für n > 2 noch nicht im Detail beherrschte. Einige Jahre später gab Albert (der mit Hasse in Briefwechsel stand) einen Mechanismus an, wie solche Körper zu erzeugen sind. Er schrieb am 6.2.1934:114

Dear Professor Hasse, I am happy to be able to write to you of my success in generalizing the Artin-Schreier results“.

Albert publizierte seine Resultate 1934 im Bulletin of the AMS [Alb34]. Wiederum einige Zeit später entwickelte H.L.Schmid im Rahmen seiner (von Hasse angeregten) Untersuchungen zum Reziprozitätsgesetz in algebraischen Funktionenkörpern eine Variante der Albertschen Konstruktion, die zwar substantiell dasselbe lieferte jedoch formale Vereinfachungen beinhaltete [Sch36]. Diese Konstruktion von H.L.Schmid wurde dann von Witt als die heute sogenannte „Wittsche Vektorrechnung“ erkannt [Wit37]. Die Resultate von H.L.Schmid und Witt wurden 1936 in der Göttinger Arbeitsgemeinschaft für Algebra und Zahlentheorie vorgetragen; sie erschienen 1937 im Crelleschen Journal.

Als Hasse in jener Arbeitsgemeinschaft die Wittsche Vektorrechnung kennenlernte, da griff er sie sofort auf, um damit das Problem, das sich aus dem hier vorliegenden Artinschen Brief ergab und bis dahin ungelöst war, in Angriff zu nehmen. Im selben Heft des Crelleschen Journals, in dem auch die Arbeit über Wittsche Vektoren erschien, publizierte Hasse seine Lösung, indem er die Formel (29) für einen beliebigen Primzahlpotenz-Exponenten ln statt nur l verallgemeinerte [Has37]. Die Verallgemeinerung sieht äußerlich ganz ähnlich aus wie (29), jedoch ist statt der Zahl q = m-1-
lc1 ein Witt-Vektor q zu nehmen, dessen erste n Komponenten den Restklassenkörper erzeugen, und der nach Witt als ganze l-adische Zahl über dem Restklassenkörper von k zu interpretieren ist. Dazu muss Hasse zunächst die Potenzierung von l-adischen Einseinheiten mit solchen Wittschen Vektoren in geeigneter Weise definieren. In diesem Sinne hat sich also die Ahnung von Artin bewahrheitet, wenn er schreibt: „Ich bin aber überzeugt, dass es mit l-adik gehen muss.

In derselben Arbeit [Has37] gelingt es Hasse auch, das von Artin angeschnittene Problem der Beschreibung „primärer“ Zahlen m für l zu lösen. Artin schreibt ja richtig, dass die von Hasse angegebene Kongruenz m  =_ xl2 (mod l2c1) zwar hinreichend aber nicht notwendig sei dafür, dass es sich bei m um eine l2-primäre Zahl (für l) handelt, d.h. dass l in k( V~ --
l2 m) unverzweigt ist. Das Problem der Bestimmung ln-primärer Zahlen für n > 2 wird von Artin wiederum in einem der folgenden Briefe angeschnitten (nämlich in Nr.16 vom 4.9.1927) jedoch erst mit der Hasseschen Arbeit [Has37] gelöst. Demgemäß trägt jene Arbeit auch den Titel: „Die Gruppe der pn-primären Zahlen für einen Primteiler p von p.“

Im Falle n = 1 war das Resultat wohlbekannt, denn Wittsche Vektoren der Länge 1 sind nichts anderes als Zahlen des Körpers. Hasse verweist in Teil Ia seines Klassenkörperberichts auf Heckes Buch über algebraische Zahlen [Hec23].

Wir sehen, dass diese hochinteressanten Entwicklungen ihren Ursprung in dem vorliegenden Brief von Artin hatten, der auf den Zusammenhang mit den sogenannten Artin-Schreier-Erzeugenden in Primzahlcharakteristik hinwies. Später, im Jahre 1949, nahm I.R.Shafarevich115 [Sha51] die Fragestellung wieder auf und führte die Hasseschen Untersuchungen zu einem gewissen Abschluss. Die Arbeit erschien 1951 auf Russisch in den Doklady Akad. Nauk. SSSR; eine ausführliche Darstellung auf Deutsch gab Hasse im selben Jahr [Has51a]. Ebenfalls im selben Jahr 1951 gab Martin Kneser [Kne51] eine vereinfachte Darstellung; vgl. dazu auch das zugehörige Zentralblatt-Referat von Witt. Die Arbeit von Shafarevich wurde 1956 von Emma Lehmer ins Englische übersetzt [Sha56].