12.1 Aufbau der Klassenkörpertheorie

Wir wissen nicht genau, was Hasse an Artin zur Klassenkörpertheorie geschrieben hatte. Aus den Artinschen Antworten 1.)–5.) können wir jedoch entnehmen, dass Hasse wahrscheinlich eine Art Plan für einen zukünftigen Aufbau der Klassenkörpertheorie aufgestellt und Artin gebeten hatte, dazu Stellung zu nehmen. Es geht hier also nicht wie bisher um die Reziprozitätsgesetze für das Jacobische oder das Hilbertsche Symbol, sondern um die Grundlegung der Klassenkörpertheorie wie sie Hasse in Teil I seines Berichts skizziert hat, deren Beweise er jedoch durchsichtiger machen möchte. Der bisherige Aufbau der Beweise erschien Hasse nicht adäquat. Wir können annehmen, dass Hasse schon jetzt (1927) der Meinung war, die er später (1930) in Teil II seines Klassenkörperberichts [Has30a] äußerte, nämlich dass die Beweise der Klassenkörpertheorie

in ihrem bisherigen Zustande wenig geeignet sind, das Studium dieser in ihren Resultaten so glatten Theorie verlockend erscheinen zu lassen.

Zwar wurde allgemein der Hassesche Bericht (Teil I) als eine willkommene Einführung in die Klassenkörpertheorie angesehen. Aber für Hasse war der gegenwärtige Stand der Beweisanordnung eben noch unbefriedigend, und deshalb hatte er wohl Artin zu einer Stellungnahme aufgefordert. Übrigens geht Artin in einem späteren Brief noch einmal auf das Thema der „abstrakten Klassenkörpertheorie“ ein; siehe 15.2. Erst sehr viel später, nach mannigfachen Beiträgen insbesondere durch Artin, Hasse und Herbrand, erhielt die Klassenkörpertheorie durch Chevalley [Che36] eine Form, die auch im Sinne von Artin und Hasse als „befriedigend“ anzusehen war.85

12.1.1 Die Hauptsätze der Klassenkörpertheorie

Die Artinschen Kommentare beziehen sich auf die Sätze, so wie sie im Klassenkörperbericht Teil I [Has26a] formuliert worden waren.

Der Existenzsatz der Klassenkörpertheorie besagt, dass zu jeder Strahlklassengruppe H eines Zahlkörpers k stets ein abelscher Erweiterungskörper K existiert. Der wesentliche Teil ist dabei der Spezialfall, dass H als Strahlklassengruppe den Index l = Primzahl besitzt, und dass dabei k die l-ten Einheitswurzeln enthält. Der Beweis in diesem Falle geschieht durch reine Abzählung der möglichen l-Strahlklassengruppen bezw. abelschen l-Erweiterungen und ist, wie Artin sagt, tatsächlich übersichtlich. Auch heute noch wird das i.w. so gemacht.

Allerdings ist dieser Beweis nicht konstruktiv. Hasse hat später eine explizite Konstruktion zumindest zyklischer Klassenkörper gegeben, ausgehend von einer vorgegebenen Klassengruppe. Die Arbeit erschien 1933 in den Mathematischen Annalen [Has33b].

Voraussetzung für den geschilderten Beweis des Existenzsatzes ist jedoch, dass vorher der sog. Umkehrsatz für Primzahlgrad l bewiesen ist, nämlich dass jede zyklische Erweiterung von k vom Grad l ein Klassenkörper zu einer Strahlklassengruppe der Ordnung l ist. Dieser Beweis ist in der Tat eines der Herzstücke der Klassenkörpertheorie, und konnte zu damaliger Zeit nur durch komplizierte Indexberechnung unter Einschaltung der analytischen Zahlentheorie bewiesen werden. Hier verlangt Artin eine Vereinfachung. Der wesentliche Durchbruch dafür kam erst einige Jahre später durch Chevalley und Herbrand. Hierzu vgl. den Brief Nr.38 vom 16.6.1931, in dem sich Artin begeistert über die Ergebnisse von Chevalley und Herbrand äußert, gleichzeitig aber auch mitteilt, dass er selbst (Artin) daran beteiligt gewesen sei. (Siehe 38.3.)

Wie Artin vorhergesagt hat, ist die Geschlechtertheorie heutzutage bei der Grundlegung der Klassenkörpertheorie entbehrlich geworden; sie wird als Folge aus der Klassenkörpertheorie gewonnen. Vgl. auch Artins Bemerkung 6.) in seinem nächsten Brief Nr.13 vom 2.8.1927, wo er sagt, dass alle Geschlechtersätze gruppentheoretisch bewiesen werden können. Statt „gruppentheoretisch“ würden wir heute sagen „kohomologisch“. Denn die in Rede stehenden Geschlechtersätze bedeuten i.w. das Verschwinden der galoisschen 1-Kohomologie der in Rede stehenden Gruppen.

12.1.2 Axiomatik: F.K.Schmidt

Möglicherweise ist die Anfrage Hasses nach Vereinfachungen der Beweise aus dem Bestreben nach einer Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie entstanden. Jedenfalls deuten die folgenden Indizien aus der Korrespondenz von Hasse mit anderen Korrespondenzpartnern darauf hin, dass er sich in dieser Zeit mit dem Problem eines axiomatischen Aufbaus der Klassenkörpertheorie beschäftigte.86

Am 6.12.1926 hatte F.K.Schmidt in einem Brief an Hasse geschrieben:

Die von Ihnen erwähnte Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie hatte ich in dieser Allgemeinheit nicht geplant…Sehr schön würde es natürlich sein, wenn man die weiteren Endlichkeitsvoraussetzungen so formulieren könnte, daß durch sie alle Körper charakterisiert würden, bei denen jeder relativ abelsche Oberkörper als Klassenkörper aufgefaßt werden kann; ähnlich etwa wie nach Frl. Noether alle Körper mit gewöhnlicher klassischer Idealtheorie durch Teilerketten- und Vielfachenketten-Postulat gekennzeichnet sind.

Obwohl wir nicht wissen, welche Ansätze Hasse für eine solche Axiomatik im Auge hatte, so zeigt diese Briefstelle, dass er sich darüber Gedanken machte. Interessant ist, dass sich F.K.Schmidt auf die Arbeit von Emmy Noether „Abstrakter Aufbau der Idealtheorie in algebraischen Zahl- und Funktionenkörpern“ [Noe26] bezieht; diese Arbeit war zwar gerade erst erschienen, aber der Inhalt scheint den interessierten Mathematikern bereits vorher geläufig gewesen zu sein, denn Noether hatte darüber auf der DMV-Tagung 1924 in Innsbruck vorgetragen. Wenn auch F.K.Schmidt keine Axiomatik der Klassenkörpertheorie geplant hatte, so plante er doch, die Klassenkörpertheorie auf den Fall algebraischer Funktionenkörper mit endlichem Konstantenkörper zu übertragen. Dies Programm hat er bis zu einem gewissen Grade auch durchgeführt, und danach haben es Hasse und Witt vervollständigt.87 Sehr wahrscheinlich war die Übertragung auf Funktionenkörper der Anlass für Hasse, eine Axiomatik der Klassenkörpertheorie anzustreben.

12.1.3 Emmy Noether

Emmy Noether schrieb ein paar Tage später, nämlich am 11.12.1926 an Hasse:

Wenn man axiomatisch scharf in die Klassenkörpertheorie hineinsehen könnte, wäre das sehr schön! Wo sind die Sachen von F.K.Schmidt erschienen?

Und noch etwas später, in einem Brief vom 3.1.1927 entwirft sie die Grundsätze, auf denen nach ihrer Meinung eine Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie aufbauen könnte.88 Offenbar hatte ihr Hasse mitgeteilt, dass sich F.K.Schmidt mit der Übertragung der Klassenkörpertheorie auf Funktionenkörper beschäftigt, und dass er (Hasse) demgemäß eine Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie anstrebe, die beide Fälle, nämlich Zahlkörper und Funktionenkörper, umfasst.

12.1.4 Hasse-Scholz

Zur Zeit des vorliegenden Briefes, also im Juli 1927, war Hasse in Kontakt mit Arnold Scholz und man plante eine gemeinsame Publikation über die Grundlegung der Klassenkörpertheorie. Die Arbeit ist 1928 in der Mathematischen Zeitschrift unter dem Titel „Zur Klassenkörpertheorie auf Takagischer Grundlage“ erschienen [HS28] (eingegangen am 17.9.1927). Zwar geht es dort nicht um Axiomatik, sondern nur um eine Feststellung der gegenseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen fundamentalen Sätze der Klassenkörpertheorie. Diese Feststellungen lieferten damals zwar keine Vereinfachung für den systematischen Aufbau der Klassenkörpertheorie aber, wie hervorgehoben wird, eine Art „Propädeutik“ der Klassenkörpertheorie.

Es ist denkbar, dass Hasse an Artin geschrieben hatte, dass er im Augenblick mit Scholz über eine gemeinsame Arbeit zur Grundlegung der Klassenkörpertheorie korrespondiere, und dass er ihm auch Einzelheiten darüber mitgeteilt hatte.

Übrigens wird in der Arbeit Hasse-Scholz das Artinsche Reziprozitätsgesetz nicht erwähnt, obwohl Hasse ja inzwischen darüber informiert war, wie wir wissen. Das erklärt sich vielleicht daraus, dass die Diskussion zwischen Hasse und Scholz über den Inhalt ihrer gemeinsamen Arbeit bereits seit einiger Zeit im Gange war, mindestens seit April 1927, wie wir aus dem Briefwechsel Hasse-Scholz entnehmen. Und im April 1927 war das Artinsche Reziprozitätsgesetz noch nicht bewiesen. Scholz, ein junger Doktorand von Schur in Berlin (der 1927 noch nicht promoviert war), hatte sich in die Takagische Klassenkörpertheorie anhand des Hasseschen Berichts, Teile I und Ia [Has26aHas27a] eingearbeitet. Die Arbeit von Hasse-Scholz bezieht sich demnach nur auf den Stand der Theorie vor dem Artinschen Reziprozitätsgesetz. Die einzelnen, von Artin im vorliegenden Brief angesprochenen Sätze der Klassenkörpertheorie finden sich in dieser Arbeit von Hasse-Scholz aufgeführt.