38 16.06.1931, Brief von Artin an Hasse

Hamburg, den 16. Juni 1931

Lieber Herr Hasse!

Ich habe Ihnen bis heute noch nicht geschrieben, da ich erst die Abzüge von den Bildern fertig machen wollte. Ich lege Sie Ihnen heute bei. Sie sind doch ganz nett geworden.97 Dass die meinigen, die Sie gemacht haben nicht so besonders geworden sind, ist nicht Ihre Schuld sondern die meine, da ich fast immer auf Photographien ein dummes Gesicht zu machen pflege. Übrigens haben Sie sich revanchiert, denn die Bilder die wir von Ihnen gemacht haben, sind leider auch nichts geworden. Teils verwackelt, teils unscharf und eins unterbelichtet (die Zimmeraufnahme).

Ich muss Ihnen noch vielmals für die freundliche Aufnahme in Ihrem Kreis danken. Sowohl ich wie meine Frau denken mit grossem Vergnügen an die Marburger Tage zurück. Vom Seminar in Marburg wurden mir noch 50 Mark überwiesen. Das wäre doch nicht nötig gewesen, wo Sie doch in so rührender Weise um uns besorgt waren.98

Nun zu Ihren Fragen.99

1) Sei o die Maximalordnung von k, O irgend eine von K. Man bilde oO. Das ist ein Rechtsideal in O. Multipliziert man es mit o, so erhält man bei Multiplikation von links wieder oO. Also liegt o in der Linksordnung von unserem Ideal, diese Linksordnung enthält also o eingebettet.

2) Ist in Ordnung.

3) Ist unrichtig; es seien i,j,k, die gewöhnlichen Quaternioneneinheiten. Man setze a = i-+-2j +-2k
     3. Dann ist a2 = -1. Also ist der Körper R(i) mit R(a) isomorph. Die Maximalordnung dieses Körpers ist aber zum Beispiel nicht in die gewöhnliche eingebettet.

Was den Beweis von Siegel betrifft100 , so glaube ich dass er in Ordnung ist. Ich kann zwar im Augenblick den betreffenden Satz auch nicht beweisen, es ist aber ungefähr das, dass einer indefiniten quadratischen Form eine definite mit gleicher Diskriminante zugeordnet wird. Ich will mich bemühen, den Zusammenhang herauszubekommen, ich glaube, dass man das Ganze überhaupt einfacher machen kann. Die zweite Stelle kann ich Ihnen beantworten. Wenn ein Produkt positiver Zahlen grösser als eins ist, so ist ihr geometrisches Mittel grösser als eins, ihr arithmetisches Mittel also erst recht. Also ist ihre Summe grösser als n.

Ich glaube überhaupt nicht, dass bei den heutigen Mitteln von Minkowski dieser Satz sehr tief liegt. Die wirkliche Schwierigkeit fängt erst bei der Relativdiskriminante an, und das ist doch das was Sie brauchen. Was können Sie denn aus diesem Satze folgern?

Seit ich wieder zurück bin, habe ich mich sehr oft mit Herbrand unterhalten. Das ist ein Mensch der unglaublich viel weiss und kann. Er hat uns hier einen Vortrag gehalten, über Grundlagen, wir waren alle begeistert. Schade dass er schon wieder abgereist ist.101

Begeistert bin ich über die neuen ungeheuren Vereinfachungen der Klassenkörpertheorie, die von Herbrand und Chevalley stammen. Man braucht jetzt so gut wie gar keine schlimmen Rechnungen mehr, auch keine trinomischen Gleichungen wie F.K. Schmidt. Da ich an einigen kleinen Punkten auch beteiligt bin, möchte ich Ihnen ganz kurz darüber schreiben.102

I. Analytischer Teil. Anders als gewöhnlich, aber nicht mit Frobenius sondern einfacher.

Sei K/k Körper vom Grade n, H eine Klassengruppe mod m aus k, die alle Relativnormen der zu m primen Ideale aus K enthält. Bilden Sie das Produkt der zu H gehörigen L-Reihen. Es erscheint eine e-Potenz und im Exponenten die bekannte Summe über alle Primidealpotenzen der Hauptklasse H. Wenn nun ein Primideal aus k in K (braucht nicht galoissch zu sein) m Primteiler ersten Grades hat, so liegt es für m > 0 als Norm in H und da m < n ist, ist der Exponent grösser als die Summe h-
n sum --m---
nN pns. Also

 sum      h      h  sum    m
     ----ns > --   ----ns .
pn (- H nN p    n    nN p
Da die rechte Seite bei s = 1 divergiert, so auch die linke, so dass das L-Reihenprodukt bei s = 1 nicht regulär sein kann, also keine L-Reihe verschwindet. Bitte! Sie brauchen dazu nicht die Fortsetzbarkeit, sondern nur die Regularität bei s = 1 und das ist die übliche Annahme der Klassenkörpertheorie. Also gilt für H der Satz von der arithmetischen Progression mit der üblichen Dichtigkeit. Aus unserer Ungleichung folgt, da die rechte Seite mindestens die Dichtigkeit 1
n- hat, dass h < n. Das gilt alles, wenn nur H alle Idealnormen von K enthält.

Sei nun K Klassenkörper. Also n = h. Dann lesen Sie aus unserer Ungleichung sofort den Satz ab: Diejenigen Primideale aus H, die in K nicht vollständig zerfallen, haben die Dichtigkeit 0. Nun beweisen wir:

Satz. Ist K und K' Klassenkörper über H und H', so ist KK' auch Klassenkörper über dem Durchschnitt H'' von H und H'.

Zunächst fallen alle Idealnormen nach H''. Also gilt für H'' der Satz von der arithmetischen Progression. Insbesondere haben die Primideale aus H'' die Dichtigkeit -1-
h'', wenn h'' den Index von H'' bezeichnet. Da sie alle in H liegen, zerfallen fast alle in K und von diesen, da sie in H' liegen, fast alle in K'. Die in KK' zerfallenden haben also die Dichtigkeit -1-
h''. Andrerseits direkt -1-
n''. Also ist Index gleich Grad und alles ist bewiesen.

Daraus folgt in trivialer Weise Ihr Satz dass K galois’sch ist, der Schachtelsatz und der Eindeutigkeitssatz.

II. Reduktionen:

1) Der Umkehrsatz U braucht nur für cyklische Körper bewiesen werden. Da dafür einfache und direkte Beweise vorliegen, ist er vom Existenzsatz unabhängig geworden. In den Umkehrsatz nehme man dabei die Aussage auf, dass im Führer nur Diskrimantenteiler vorkommen.

2) Unter E verstehe ich den Existenzsatz und den speziellen Zerlegungssatz (für Primteiler aus H) und den Isomorphiesatz. Ferner die Aussage, dass in der Diskriminante nur die Ideale des Führers aufgehen. Dann reduziert sich, wie in Ihrem Bericht, die Aussage auf den Primzahlgrad mit Einheitswurzel im Grundkörper. Jetzt sind alle Reduktionen besonders einfach, da das Zerlegungsgesetz immer mit in die Induktion aufgenommen wird. Auch das Herauswerfen der Einheitswurzel ist jetzt ganz trivial, auch ohne Hinzunahme von Frobenius. Vom Führer braucht nicht gesprochen zu werden.

Es bleibt also U im cyklischen Fall und E im Fall Primzahlgrad mit Einheitswurzel noch zu zeigen. U reduziert sich wie gewöhnlich auf die Bestimmung des Normenrestindex und des Einheitenhauptgeschlechts.

Diese beiden Indizes lassen sich unter Zuhilfenahme eines gruppentheoretischen sehr einfachen Hilfssatzes sozusagen in zwei Zeilen beweisen.

Aber gestatten Sie mir dass ich für heute schliesse. Ich muss noch zur Post, damit dieser Brief wegkommt. Den restlichen Teil schreibe ich Ihnen das nächste Mal, wenn es Ihnen Lust macht. Ich weiss aber nur nicht ob Sie sich in diesem sehr kurzen und summarischen Bericht zurechtfinden.

Und nun die herzlichsten Grüsse auch an Ihre Frau und auch von der meinen,

      Ihr Artin

Hoffentlich machen Ihnen die Bilder Spaß.103 Die Gruppenaufnahme ist ja etwas mißglückt, aber da sie sowieso nicht gut ist wird es Sie hoffentlich nicht stören. Könnten Sie bitte so nett sein und mir den Namen des russischen Professors in Prag, nach dem ich mich für Prof. Hensel erkundigen sollte, schreiben? Das wäre furchtbar nett.104

Mit den besten Grüßen auch an Ihre Frau und Jutta105

      N. Artin

Kommentare zum Brief Nr.38:

  38.1 Maximalordnungen
  38.2 Siegel
  38.3 Ungeheure Vereinfachungen
   38.3.1 Analytischer Teil
   38.3.2 Reduktionen