38.1 Maximalordnungen

Hasses Fragen 1)-3) sind uns nicht bekannt, aber aus Artins Ausführungen kann man entnehmen, worum es sich handelt, nämlich um Maximalordnungen in einfachen Algebren. Zu der damaligen Zeit arbeitete Hasse intensiv an der Algebrentheorie mit dem Ziel, seine diversen Vermutungen zu beweisen, die er ja kürzlich auch Artin mitgeteilt hatte. (Siehe 36.1.) In der Zeit vom 26.Februar bis 1.März 1931 hatte in Marburg eine Tagung über Schiefkörper stattgefunden, in welcher über die Hasseschen Vermutungen gesprochen wurde.106 Zu dieser Tagung, die Hasse gemeinsam mit Emmy Noether organisiert hatte, war natürlich auch Artin eingeladen worden; er hatte aber nicht teilgenommen. Wir können vielleicht annehmen, dass Hasse die Pfingsteinladung an Artin hauptsächlich deswegen ausgesprochen hatte, um ihm über die Ergebnisse der Tagung zu berichten, und um überhaupt über Möglichkeiten der Weiterarbeit an den anstehenden Vermutungen zu sprechen.

Das Interesse Hasses an den Maximalordnungen erklärt sich aus seiner damaligen Idee, das Lokal-Global Prinzip für Algebren auf die Berechnung der Diskriminante zu stützen: es war zu zeigen, dass eine überall unverzweigte einfache Algebra zerfällt. Ein Weg dazu war vielleicht, den Zusammenhang von Maximalordnungen der Algebra mit den Maximalordnungen der kommutativen Teilkörper genauer zu untersuchen. Dies war sicherlich eine interessante Aufgabe auch unabhängig von der möglichen Anwendung auf den Beweis des Lokal-Global-Prinzips.

In Hasses Tagebuch haben wir unter dem Datum „Mai 1931“ eine Eintragung gefunden mit dem Titel:

Maximalordnungen in einfachen Algebren und deren maximalen Teilkörpern. Im Anschluss an Unterhaltungen mit Artin.

Offenbar sind damit die Unterhaltungen gemeint, die Hasse mit Artin anläßlich seines Besuches in Marburg am Wochenende des 30.Mai geführt hatte. In der Tagebuch-Eintragung finden wir den folgenden Satz 1.

K bedeutet dabei eine einfache Algebra über einem algebraischen Zahlkörper _O_ als Zentrum (dieser Grundkörper wird bei Artin nicht besonders erwähnt). k bedeutet einen maximalen Teilkörper von K. Mit o wird die Maximalordnung von k bezeichnet.

Satz 1. Es gibt Maximalordnungen O von K, die o enthalten.

Hasse schreibt dazu: „Satz von Artin, Beweis von einem seiner Schüler“.107 Und der Beweis im Hasseschen Tagebuch stimmt überein mit dem Beweis, den Artin in seinem Brief unter Punkt 1) mitteilt. Der Beweis ist sehr einfach und beruht auf der von Artin [Art28c] und dann auch von Hasse [Has31b] entwickelten arithmetischen Theorie der Maximalordnungen.108 Insbesondere wird benutzt, dass für ein Rechtsideal einer Maximalordnung O die zugehörige Linksordnung ebenfalls maximal ist – das war ja der Ausgangspunkt für die Konstruktion des Brandtschen Gruppoids einer Algebra.

Als unmittelbare Folge aus Satz 1 ergibt sich o = O  /~\ k. Dies wird von Hasse in seinem Tagebuch als „Satz 2“ bezeichnet. War dies die Frage von Hasse, die Artin unter Punkt 2) mit „ist in Ordnung“ quittiert?

Bei Punkt 3) hatte Hasse, wie es scheint, danach gefragt, ob o vielleicht in jeder Maximalordnung enthalten ist. Denn Artin zeigt unter Punkt 3 ein Gegenbeispiel hierzu auf, und zwar im Schiefkörper der gewöhnlichen Quaternionen über Q. Unter der „gewöhnlichen“ Maximalordnung des Quaternionenschiefkörpers versteht er die von 1,i,j,k und 1
2(1 + i + j + k) erzeugte Ordnung, die wohl zuerst von Hurwitz [Hur96] betrachtet worden war. Diese Untersuchung von Hurwitz bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Theorie der Maximalordnungen von Algebren, die von Hurwitz’ Schüler DuPasquier begonnen, von Dickson weiter ausgearbeitet und dann von Speiser, Brandt, Artin, Hasse im Rahmen der Idealtheorie vollendet worden war.109

Die Hasseschen Aufzeichnungen in seinem Tagebuch gehen jedoch weiter. Es werden die Rechtsideale von O untersucht, die von den Idealen a von o erzeugt werden, die also die Form aO besitzen; allgemeiner die Ideale der Form aA wobei A ein zweiseitiges Ideal von O bedeutet. Es wird gezeigt, erstens dass o nicht nur in der Rechtsordnung O von aA enthalten ist, sondern auch in der Linksordnung von aA. Davon wird zweitens auch die Umkehrung bewiesen: Jedes O-Rechtsideal, dessen Linksordnung ebenfalls o enthält, besitzt die Form aA wie oben – vorausgesetzt, dass das gegebene Ideal prim zur Differente von O ist.

Zu diesem Satz findet sich am Schluss der Tagebucheintragung der offenbar später von Hasse hinzugefügte Vermerk:

Chevalley hat einen anderen Beweis für diesen Satz gegeben und überdies gezeigt, dass der Satz nicht mehr allgemein gilt, wenn die Einschränkung „prim zur Differente von O“ aufgehoben wird.

Dabei verweist Hasse auf einen Brief von Chevalley vom Januar 1932.

In der Tat gibt es einen Brief von Chevalley an Hasse, datiert am 31.Dezember 1931. Er hätte von Emmy Noether gehört, dass Hasse sich mit der Beziehung zwischen den o-Idealen in k und den O-Idealen in K beschäftige. Und er sagt weiter:

A ce propos, et sur les conseils de Monsieur Artin j’ai examiné la question des idéaux à droite de l’ordre maximum dont l’ordre gauche contient l’ordre commutatif. Je ne suis arrivé qu’à des résultats négatifs. Je voulais démontrer que les idéaux en question sont de la forme aA , où a est un idéal de l’anneau commutatif et A un idéal bilatère. Mais ce théorème est faux en général. On peut facilement donner des exemples en construisant le «Verschränkte Produkt »

In einem darauffolgenden Brief vom 17.Januar 1932 schreibt Chevalley, offenbar auf Hasses Anfrage nach Einzelheiten:

Naturellement, je me sers dans ma démonstration de votre théorie des algèbres p-adiques. Mais je ne fais pas de la même manière que vous.

Und dann gibt er eine ausführliche Darstellung seiner Überlegungen.

Im Wintersemester 1931/32 war Chevalley als junger Rockefeller-Stipendiat bei Artin in Hamburg. Er hat seine Resultate, die er im Brief an Hasse darstellte, dann in den Hamburger Abhandlungen publiziert [Che34]. Wir sehen, dass die Probleme aus der Pfingst-Unterhaltung von Artin und Hasse in Marburg nicht nur von Hasse, sondern auch von Artin und seinen Schülern weiter verfolgt wurden.

Hasse hat übrigens seine Version dann ebenfalls publiziert, unter Hinweis auf Artin und Chevalley, und zwar in dem Gedenkband für Herbrand, der im August 1931 als Bergsteiger tödlich verunglückt war [Has34d]. Und auch Emmy Noether publizierte ähnliche Resultate [Noe34], sodass also im selben Jahr drei verschiedene Arbeiten zu demselben Thema erschienen. Vgl. dazu [LR06] und [Roq00].