10.1 Die s-Formulierung

In der Artinschen Bezeichnung bedeutet s stets ein Element der Galoisgruppe G der in Rede stehenden abelschen Körpererweiterung. Artin versteht offenbar unter „s-Formulierung“ des Reziprozitätsgesetzes die Deutung des klassischen allgemeinen Reziprozitätsgesetzes für Potenzreste als gruppentheoretische Aussage, nämlich als Isomorphieaussage zwischen Strahlklassengruppen und Galoisgruppen. Dies sei, so Artin, die „wahre“ Formulierung des Reziprozitäsgesetzes.

Artin fragt, ob Hasse „ihm jetzt beipflichte“. Wir wissen nicht genau, was Hasse darauf antwortete. Immerhin erscheint uns die Frage interessant, weil sie offenbar impliziert, dass Hasse bisher der Auffassung Artins in dieser Sache eben nicht ganz beipflichten konnte. Die Situation stellt sich u.E. wie folgt dar:

Artin folgt dem Postulat von Kronecker und später von Hilbert, dass die arithmetischen Eigenschaften eines (galoisschen) Zahlkörpers sich wesentlich in der Struktur der Galoisgruppe und der Diskriminante spiegeln, analog zum Fall der Funktionenkörper, wo die Eigenschaften einer Riemannschen Fläche sich aus der Struktur der Galoisgruppe und der Verzweigungsstellen erklären lassen (entsprechend den Ideen von Riemann).51 Hilbert hat, diesem Postulat folgend, die Theorie des galoisschen Körpers entwickelt (heute als „Hilbertsche Verzweigungstheorie“ bekannt) und seinen „Zahlbericht“ entsprechend aufgebaut. Auch Hilberts Hervorheben des absoluten Klassenkörpers als einer unverzweigten und daher besonderen Erweiterung, in der nur noch die Galoisgruppe bestimmend ist, folgt diesem Prinzip, was Hilbert auch mehrmals betont. Auch Hilberts 21. Problem, ob es ein System von Fuchsschen Differentialgleichungen bei vorgegebenen Singularitäten und gegebener Monodromiegruppe gebe, ordnet sich diesem Prinzip unter. Von Hilbert ausgehend empfindet Artin daher seine s-Formulierung, welche eben die Galoisgruppe ins Spiel bringt, als die „wahre“.

Mit anderen Worten: Artin fasst die klassischen Ergebnisse über Reziprozitätsgesetze für Potenzreste als Spezialfälle auf, sozusagen als Vorläufer, die schließlich in dem Artinschen Reziprozitätsgesetz ihre „wahre“ Formulierung finden.

Hasse hatte jedoch stets darauf bestanden, dass die explizite Bestimmung des Eisenstein-Kummerschen Umkehrfaktors (siehe (6), Seite 60) als das „wahre“ Reziprozitätsgesetz anzusehen sei. Er erkannte durchaus, dass das Artinsche Reziprozitätsgesetz ein Ergebnis der „allerhöchsten Bedeutung“ sei, wie er es später in [Has30a] formulierte, sozusagen die Krönung der Klassenkörpertheorie. Aber dies war für ihn eben nicht das Reziprozitätsgesetz im eigentlichen Sinn des Wortes. In der Tat hat sich ja Hasse in Teil II seines Klassenkörperberichtes [Has30a] daran gemacht, aus dem Artinschen Reziprozitätsgesetz explizite Formeln für den Umkehrfaktor herzuleiten; das war keineswegs trivial und erforderte ein gehöriges Stück Arbeit.

Vielleicht hätte Hasse der Artinschen Auffassung eher beipflichten können, wenn Artin sein Resultat nicht „Reziprozitätsgesetz“ genannt hätte, sondern z.Bsp. „Isomorphiesatz der Klassenkörpertheorie“ oder ähnlich. Aber der Unterschied in den Auffassungen von Artin und von Hasse lag wohl nicht allein in der Terminologie, sondern er betraf generell ihre Einstellung zur Mathematik und insbesondere zur Zahlentheorie. Artin strebte danach, die strukturellen Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, die die Zahlentheorie beherrschen, und er betrachtete die expliziten Rechnungen dazu (an denen er sich ja lebhaft beteiligte, wie dieser Briefwechsel zeigt) nur als Indikatoren und Wegweiser zu diesem Ziel. Hasse dagegen erkannte wohl die erkenntnistheoretische Bedeutung der strukturellen Gesetzmäßigkeiten (die er ja selbst intensiv erforschte), er empfand jedoch auch die explizite, formelmäßige und berechenbare Beschreibung der mathematischen Sachverhalte als wesentlichen Teil der Erkenntnis. Er hat das in seinem Brief an Hermann Weyl, den wir schon in Abschnitt 5.7 auf Seite 144 zitierten, deutlich zum Ausdruck gebracht.

Diese Auffassung hat Hasse bis in seine letzten Jahre vertreten. Er hat dies einem von uns (Frei) bei verschiedenen Gelegenheiten ganz eindeutig zum Ausdruck gebracht. Schon Gauss habe grossen Wert darauf gelegt, den Umkehrfaktor explizit zu bestimmen, und Gauss habe hierfür viel gerechnet und keine Mühe gescheut. In diesem Sinne hat Hasse dann später auch die diesbezüglichen Arbeiten von Shafarevich von 1948-1950 sehr begrüsst und als ganz bedeutend angesehen.52 Ebenso hat Hasse in diesem Zusammenhang die Arbeiten seines Schülers Helmut Brückner immer wieder erwähnt.53

In diesem Zusammenhang ist auch das Buch von Hasse „Über die Klassenzahl abelscher Zahlkörper“ zu erwähnen [Has52]. Damit leitete Hasse einen neuen, sich nach 1950 stark entwickelnden Zweig der mathematischen Forschung ein, nämlich die explizite Beherrschung der arithmetischen Gesetzmäßigkeiten in abelschen Zahlkörpern. Siehe dort insbesondere das Vorwort, in dem Hasse seine Auffassung sehr deutlich und ausführlich darlegt. Dieses Buch, das 1945 während eines Lazarettaufenthaltes in englischer Gefangenschaft geschrieben wurde, kann wohl als ein Höhepunkt des gesamten Hasseschen Werkes angesehen werden, als die reifste Frucht seines Schaffens.