5.7 Die Lücke 1923–1926

Der Brief Nr.5 ist datiert am 12.Juli 1923 und der nächste Brief Nr.6 am 10.Februar 1926. Diese Lücke in der Korrespondenz bedeutet jedoch nicht, dass es in dieser Zeit keinen Kontakt zwischen Artin und Hasse gegeben hat. In der Tat zeigt das mathematische Tagebuch von Hasse, dass sich beide öfter persönlich getroffen haben.23 Wir haben schon oben gesagt, dass Hasse von Kiel häufig in das benachbarte Hamburg fuhr, um dort an dem von Hecke, Blaschke und Artin geführten mathematischen Seminar teilzunehmen. Bei diesen Anlässen ergab sich auf natürliche Weise Gelegenheit zur Diskussion und zum Austausch von Informationen; es war daher nicht nötig, Briefe zu schreiben.

Aus dem Hasseschen Tagebuch (und nicht nur daraus) kann man entnehmen, dass sich Hasse während dieser Zeit durch den Kontakt vor allem mit Artin, aber auch mit Schreier und mit Hecke, über den Einflussbereich von Hensel hinaus mehr und mehr dem abstrakten und strukturellen Denken zuwandte. Hasse hielt im Herbst 1923 in Kiel eine Vorlesung über Galois-Theorie, und angeregt durch Artins L-Reihen Arbeit, die jener schon im Juli 1923 eingereicht hatte und von der Hasse schon bald Korrekturfahnen und dann einen Separatdruck erhalten hatte, begann sich Hasse für Darstellung von Gruppen zu interessieren und sich zusammen mit Artin und Schreier Gedanken zu einem Beweis des Artinschen Reziprozitätsgesetzes zu machen. Daher auch Hasses Studien (in seinem Tagebuch) zu den Arbeiten von Frobenius, Matrizen und charakteristische Gleichung, abstrakte Gruppen mit definierenden Relationen (nach einem Vortrag von Schreier im März 1924), Darstellung von Gruppen durch Matrizen (Juni 1924), Basissatz über abelsche Gruppen und über hyperkomplexe Zahlen (Juli 1924).

Im Jahre 1924 auf der DMV-Tagung in Innsbruck erhielt Hasse eine besonders intensive Anregung in Richtung zur abstrakten und damals „modernen“ Algebra, nämlich durch Emmy Noether. Wie wir bereits oben einmal erwähnt haben, hielt Hasse dort einen Vortrag über explizite Reziprozitätsformeln. In derselben Sektion und zwar unmittelbar nach seinem eigenen Vortrag hatte er dann Gelegenheit, Emmy Noether zu hören. Zwar war er Emmy Noether schon 1918 in seinem ersten Göttinger Studiensemester begegnet, hatte damals jedoch keine Vorlesung von ihr gehört.24 Nun war er beeindruckt von ihrer Art, Mathematik zu treiben.

Emmy Noether berichtete in Innsbruck über die von ihr entwickelte axiomatische Kennzeichnung der heute so genannten Dedekind-Ringe, als Grundlage für die Arithmetik der Zahlkörper. Die Noethersche Sichtweise ist eine ganz andere, als es Hasse aus dem Umkreis von Hensel gewohnt war. Es geht Noether nicht um formelmässige Beherrschung der mathematischen Gesetze, sondern um die Offenlegung der zugrundeliegenden Strukturen. Davon beeindruckt, begann Hasse mit Emmy Noether eine rege und mathematisch fruchtbare Korrespondenz, die bis zu Noethers Tod 1935 anhielt25 . Im Laufe der Zeit machte er sich die Sichtweise von Emmy Noether zu eigen und brachte sie auch in seinen Arbeiten zur Geltung. Insbesondere versuchte er, die Noetherschen Methoden für einen neuen, strukturellen Aufbau der Klassenkörpertheorie zu verwenden; davon legen die Hasseschen Arbeiten in den nächsten Jahren beredtes Zeugnis ab, und das spiegelt sich auch in seiner Korrespondenz mit Artin wider.26 Allerdings führte seine Idee, die Klassenkörpertheorie nach dem Vorbild der Noetherschen Axiomatik zu axiomatisieren, zunächst zu keinem Ergebnis; erst später legten Artin und Tate eine axiomatische Klassenkörpertheorie vor, wobei die Axiome im Rahmen der Kohomologietheorie formuliert wurden [AT68].

Hasses Vortrag auf der DMV-Tagung in Prag 1929 mit dem Titel „Die moderne algebraische Methode“ [Has30b] kann als eine Art Werbung für die Noethersche abstrakte Algebra gesehen werden. Siehe auch Hasses Göschen-Bändchen über „Höhere Algebra“, von denen es in einer Besprechung heißt, dass es „insofern bahnbrechend war, als darin zum ersten Male die Steinitzsche Körpertheorie folgerecht in einem Lehrbuch durchgeführt wurde [Has27c].

Somit war Hasse auch durch den Kontakt mit Emmy Noether darauf vorbereitet, das Artinsche Reziprozitätsgesetz in seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung der Zahlentheorie voll zu erkennen und zu würdigen – obwohl es in seiner Formulierung total von den früheren Reziprozitätsgesetzen abwich, denen doch Hasse seine ersten mathematischen Arbeiten gewidmet hatte. Denn das Artinsche Reziprozitätsgesetz postuliert einen kanonischen Isomorphismus zwischen algebraischen Strukturen im Sinne der modernen Algebra, und nicht etwa eine Rechenformel zur Bestimmung von Potenzresten. Wenn auch Hasse aufgrund seiner bisherigen Arbeitsrichtung vielleicht anfangs zu denen gehören mochte, denen das Artinsche Reziprozitätsgesetz zunächst „etwas fremdartig“ erschien (wie es Artin in [Art23b] formulierte), so änderte sich das schnell und spätestens seit der Innsbrucker Tagung. Hasse betrachtete das Artinsche Reziprozitätsgesetz als einen „Fortschritt von der allergrößten Bedeutung“.

Das bedeutete allerdings nicht, dass Hasse vollkommen auf die Noethersche Linie einschwenkte und seine ursprüngliche Wertschätzung von expliziten Formeln aufgab. Seine Einstellung zu diesen Fragen schildert er selbst in einem Brief, den er später, nämlich 1931, an Hermann Weyl geschrieben hat. Hasse und Weyl hatten sich zum ersten Mal auf der Innsbrucker Tagung 1924 getroffen. Weyl hatte damals den Vorsitz geführt in der Sitzung, in der Hasse und danach Emmy Noether ihren Vortrag hielten. Es scheint, dass Weyl damals gegenüber dem jungen Hasse die Meinung geäußert hatte, dass seit Hilbert die expliziten Reziprozitätsformeln nicht mehr ein solch großes Interesse beanspruchten, und dass er ihm stattdessen die Beschäftigung mit „modernen“, strukturellen Fragen der Zahlentheorie nahegelegt hatte. Nunmehr aber, im Jahre 1931, hatte Weyl ihn in einem Brief beglückwünscht zu seinen Erfolgen in der Strukturtheorie der Algebren über Zahlkörpern und den Auswirkungen auf die Klassenkörpertheorie. Weyl hatte dabei an ihr erstes Zusammentreffen in Innsbruck erinnert. In seinem Antwortbrief führt Hasse u.a. aus:

Auch ich erinnere mich sehr gut an Ihre ersten Worte zu mir anläßlich meines Vortrages über die erste explizite Reziprozitätsformel für höheren Exponenten in Innsbruck. Sie zweifelten damals ein wenig an der inneren Berechtigung solcher Untersuchungen, indem Sie ins Feld führten, es sei doch gerade Hilberts Verdienst, die Theorie des Reziprozitätsgesetzes von den expliziten Rechnungen früherer Forscher, insbesondere Kummers, befreit zu haben.
…Ich kann aber natürlich gut verstehen, daß Dinge wie diese expliziten Reziprozitätsformeln einem Manne Ihrer hohen Geistes- und Geschmacksrichtung weniger zusagen, als mir, der ich durch die abstrakte Mathematik Dedekind-E.Noetherscher Art nie restlos befriedigt bin, ehe ich nicht zum mindesten auch eine explizite, formelmäßige konstruktive Behandlung daneben halten kann. Erst von der letzteren können sich die eleganten Methoden und schönen Ideen der ersteren wirklich vorteilhaft abheben.

Der Klassenkörperbericht Teil II ist ein gutes Beispiel für diese Haltung Hasses.27 Neben dem Artinschen Reziprozitätsgesetz, dem Hauptidealsatz und der Theorie der Artinschen Führer findet sich die nach dem damaligen Kenntnisstand wohl vollständigste Darstellung der daraus folgenden expliziten Reziprozitätsgesetze. Die schrittweise Entstehung dieses Berichtes können wir in dem Briefwechsel Artin–Hasse beobachten.