39.2 Die Klassenkörperbeweise

Im vorangegangenem Brief Nr.38 vom 16.6.1931 haben wir gesehen, dass Artin die neue Entwicklung in der Klassenkörpertheorie faszinierte, und dass dabei nicht nur Herbrand und Chevalley, sondern auch er selbst einen Anteil hatte. Die Andeutungen, die er Hasse in dem vorangegangenen Brief dazu gegeben hatte, waren jedoch ziemlich kurz; er hat also jetzt seine damalige Skizze ausführlicher aufgeschrieben.

Artin hat aber diese seine „Klassenkörperbeweise“ niemals publiziert. Vielleicht deshalb, weil sie schließlich in die Thèse von Chevalley [Che33b] eingingen und dort noch weiter entwickelt wurden. Es wäre aus historischer Sicht sehr interessant, wenn das Original des Artinschen Manuskripts aufgefunden würde. Wie in diesem Brief angekündigt, hat er ein Exemplar wohl auch an Hasse geschickt. Im Hasse-Nachlass haben wir es aber nicht gefunden.

Es gibt jedoch andere Dokumente, aus denen sich der wesentliche Inhalt des erwähnten Artinschen Manuskripts rekonstruieren lässt. Das sind:

  1. eine Ausarbeitung der Artinschen Klassenkörper-Vorlesung in Hamburg im Wintersemester 1931/32.127 Wir haben eine Kopie dieser Ausarbeitung in der Bibliothek des Heidelberger Mathematischen Instituts gefunden. Wir konnten jedoch nicht feststellen, wer diese Ausarbeitung angefertigt hatte.128 Im Wintersemester 1931/32 war Chevalley als Rockefeller-Stipendiat in Hamburg bei Artin; es ist sicher, dass er diese Vorlesung gehört hat. In seiner Thèse [Che33b] hat Chevalley sicher Anregungen aus der Artinschen Vorlesung verarbeitet.
  2. eine Ausarbeitung der berühmten drei Göttinger Vorträge Artins aus dem Jahre 1932. Diese Vorträge kamen zustande aufgrund einer Einladung von Emmy Noether, die offenbar von den neuen Vereinfachungen im Aufbau der Klassenkörpertheorie gehört hatte. Die Vorträge wurden von Olga Taussky ausgearbeitet und fanden so als „Lecture Notes“ Verbreitung [Art32c]. Später wurden sie in englischer Übersetzung in einem Anhang zu dem Buch von Harvey Cohn [Coh78] publiziert.
  3. eine Ausarbeitung der Hasseschen „Marburger Vorlesungen“ über Klassenkörpertheorie im Sommersemester 1932. Wie zahlreiche andere auswärtige Mathematiker war auch Hasse zu den Artinschen Vorträgen nach Göttingen gekommen. Er hat die damals von Artin erhaltenen Anregungen in seinen Vorlesungen aufgenommen und darüberhinaus weitere Vereinfachungen erzielt.129 Hasses „Marburger Vorlesungen“ wurden von seinem Assistenten Wolfgang Franz ausgearbeitet und waren zunächst als „Lecture Notes“ verfügbar130 ; später erschienen sie auch in Buchform [Has67].

BEMERKUNG: Ernst Witt wohnte Artins Vorträgen in Göttingen als junger, noch nicht promovierter Student bei. Er berichtet in [Wit83]: dass ihn die Vorträge „tief beeindruckt“ haben, sodass er daraufhin beschloss, in den folgenden Semesterferien nach Hamburg zu Artin zu gehen, um dessen Klassenkörpertheorie genauer zu studieren. In den folgenden Jahren, so sagt er, „war es mein Ziel, diese Klassenkörpertheorie auf Funktionenkörper zu übertragen“. Er begann damit im Juli 1933 mit seiner später berühmt gewordenen Göttinger Dissertation zum Riemann-Rochschen Satz für Algebren.131