11.3 Teilbarkeit von Klassenzahlen

Wenn Artin im Zusammenhang mit dem Teilbarkeitsproblem für Klassenzahlen von einer „kindischen Vermutung jedes Anfängers“ spricht, dann erinnert er sich vielleicht an seine eigene Jugend, in der er diese Vermutung ebenfalls gehabt haben mag. Aber seine Korrespondenz mit seinem Lehrer Herglotz zeigt, dass er schon früh, spätestens 1922, über diese „kindische Vermutung“ hinausgekommen war und ernsthafte Untersuchungen zur Klärung des Sachverhalts eingeleitet hatte. Jedenfalls kann aus dieser Briefstelle nicht geschlossen werden, dass es Artin erst jetzt bewusst wurde, dass jene Vermutung unzutreffend ist.

Wir können es aber nachfühlen, wenn Artin an Hasse schreibt, dass ihm sein neuer Satz, den er im Hecke-Seminar vorgetragen hatte, „grossen Spass bereitet“ hat. Denn der Beweis ist, auf der Basis der Klassenkörpertheorie, wirklich einfach und hat nicht direkt mit Zetafunktionen und L-Funktionen zu tun. Und der Satz enthält natürlich auch den Fall eines Ikosaederkörpers, weil die Ikosaedergruppe als einfache Gruppe keine nichttrivialen Normalteiler mit abelscher Faktorgruppe besitzt.

Artin hat diesen Satz, obwohl er ihn als „neu“ ansah, niemals publiziert. Vielleicht deshalb nicht, weil eben der Beweis so einfach ist und auf der Hand liegt; Artin spricht ja auch von einer „trivialen Verwendung der Klassenkörpertheorie.“ Vielleicht hatte aber Hasse in seiner Antwort darauf hingewiesen, dass der Satz so neu nicht war, und dies war der Grund, weshalb Artin eine Publikation nicht in Betracht gezogen hat. Wir erläutern dies im folgenden etwas genauer.

11.3.1 Furtwängler, Tschebotareff, Hasse

Artin weist in seinem Brief darauf hin, dass sein Satz, angewandt auf Teilkörper des Körpers der ln-ten Einheitswurzeln (l Primzahl), „unmittelbar eine Kummersche Vermutung bestätigt“, und er verweist dazu auf den Hilbertschen Zahlbericht.74 Dort lesen wir allerdings, unter Berufung auf [Kum50], dass es nicht eine „Vermutung“ von Kummer war, sondern eine „Behauptung“, von der Hilbert berichtet, dass der Beweis nicht stichhaltig sei.

Diese Behauptung Kummers wurde schließlich im Jahre 1908 von Furtwängler korrekt bewiesen und gleichzeitig verallgemeinert, denn Kummer bezieht sich nur auf den Fall einer Primzahl l > 2, während Furtwängler allgemeiner den Fall einer Primzahlpotenz ln behandelt, unter Einschluss des Falles l = 2. Für je zwei Teilkörper k < K des Körpers der ln-ten Einheitswurzeln beweist also Furtwängler, dass die Klassenzahl hk ein Teiler der Klassenzahl hK ist. Das ist aber genau der Satz, den Artin als unmittelbare Folgerung aus seinem allgemeinen Satz angibt. Das von Artin angegebene Gegenbeispiel im Kreiskörper der 20-ten Einheitswurzeln ist genau dasselbe wie bei Furtwängler.

Da Artin in seinem Brief Furtwängler nicht erwähnt, so ist anzunehmen, dass er die Arbeit von Furtwängler damals noch nicht kannte. Von Hasse allerdings wissen wir, dass er mit der Furtwänglerschen Arbeit vertraut war. Denn unter dem Datum des 10.10.1925 finden wir in Hasses Tagebuch eine Eintragung mit dem Titel:

Die Idealklassengruppen relativ–Abelscher Körper. (Verallgemeinerung eines Satzes von Furtwängler).“ 

Die Hassesche Verallgemeinerung bezieht sich darauf, dass er eine beliebige abelsche Erweiterung K|k von Zahlkörpern betrachtet, nicht notwendig Teilkörper eines ln-ten Einheitswurzelkörpers, und er setzt voraus, dass der Hilbertsche Klassenkörper von k linear disjunkt ist zu K. (Diese Voraussetzung ist bei Teilkörpern von Q(ln V~ 1-) stets erfüllt.) Wir sehen also, dass Artin den Satz von Hasse noch einmal verallgemeinert, indem er die Voraussetzung fallen lässt, dass K|k abelsch ist. Wie so oft in der Mathematik, vereinfacht sich der Beweis, nachdem das Problems in eine allgemeinere Situation eingebettet wurde.

Offenbar hat Hasse nach Erhalt des Artinschen Briefes seine eigene Tagebuch-Aufzeichnung aus dem Jahre 1925 noch einmal durchgesehen, denn am Schluss der Eintragung finden wir den nachträglichen Vermerk: „Siehe auch Brief von Artin vom 26.7.27 “. Wir können daher wohl annehmen, dass Hasse in seiner Antwort an Artin nicht nur auf den Furtwänglerschen Satz hingewiesen hat, sondern auch auf seine eigene, im Tagebuch von 1925 niedergelegte Verallgemeinerung. Dies würde erklären, dass Artin in einem der folgenden Briefe (Nr.14 vom 6.8.1927) schreibt: „Es war ja klar, dass dies schon bekannt sein musste.

Allerdings hat uns die Interpretation jener Briefstelle einige Mühe gekostet. Denn die zitierte Äußerung im Brief Nr.14 steht nicht allein, sondern sie lautet vollständig so:

Ich danke Ihnen auch für die freundliche Übersendung der Arbeit von Tschebotareff. Sie liegt bei. Es war ja klar, dass das schon bekannt sein musste.“ 

Demnach sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob Artin auf ein Resultat von Tschebotareff Bezug nimmt, welches also schon als bekannt anzusehen war. Wir sind aber zu der Überzeugung gekommen, dass diese Interpretation nicht zutrifft, sondern dass mit „bekannt“ sehr wahrscheinlich das oben erwähnte Resultat von Furtwängler aus dem Jahre 1908 gemeint war, das zunächst durch die Hassesche Tagebucheintragung und dann durch Artins Satz im vorliegenden Brief eine Verallgemeinerung erfahren hatte. Die folgenden Überlegungen haben uns zwingend dahin geführt:

Zunächst war zu klären, um welche Arbeit von Tschebotareff es sich wohl gehandelt hatte. Sicherlich nicht die berühmte Arbeit [Che26] aus den Mathematischen Annalen mit dem Dichtigkeitssatz, denn diese Arbeit war ja Artin bekannt (siehe den Brief Nr.6 vom 10.2.1926), und Artin hätte sie nicht von Hasse auszuleihen brauchen. Nach Durchsicht der Publikationen von Tschebotareff kommt eigentlich nur die Arbeit [Tsc24] infrage.75 In dieser Arbeit werden Klassenzahlfragen behandelt. Es sei K ein Teilkörper des ln-ten Einheitswurzelkörpers (l Primzahl), und n der Grad von K. Es sei p ein Primteiler der Klassenzahl h von K und es werde angenommen, dass K minimal ist mit durch p teilbarer Klassenzahl. Dann zeigt Tschebotareff, dass

p  =_  1 mod n
(25)

ist unter der Voraussetzung, dass p in h nur einfach vorkommt, oder allgemeiner, dass der p-Anteil der Klassengruppe zyklisch ist, oder noch allgemeiner, dass die Klassengruppe eine Untergruppe von Index p besitzt, die unter den Automorphismen von K stabil ist. Dies hat nun zunächst nichts mit dem obigen Satz von Furtwängler zu tun. Aber: Im Beweis greift Tschebotareff in seiner Arbeit auf den Satz von Furtwängler zurück und gibt für diesen eine neue Herleitung.

Wir halten es für wahrscheinlich, dass Hasse in seiner Antwort auch auf diese Arbeit von Tschebotareff hingewiesen hat, in der sich u.a. ein neuer Beweis des o.g. Resultats von Furtwängler findet.

Diese Arbeit [Tsc24] von Tschebotareff war in einer damals neu gegründeten, ziemlich unbekannten Zeitschrift erschienen, nämlich in Band 1 der „Berichte der wissenschaftlichen Forschungsinstitute in Odessa“. Es war also nicht verwunderlich, dass Artin diese Arbeit nicht kannte und er sie sich von Hasse zur Einsicht ausleihen musste. Als er sie dann zurücksandte, kommentierte er sie (im Brief Nr.14) mit den oben zitierten Worten: „Es war ja klar, dass das schon bekannt sein musste“, womit er eben den zur Diskussion stehenden Furtwänglerschen Satz meinte, der ja bei Tschebotareff noch einmal bewiesen war.

Aber wie hatte Hasse Kenntnis von dieser ziemlich unbekannten Arbeit von Tschebotareff bekommen? Wir haben schon in Abschnitt 6.5, Fußnote 48 berichtet, dass Hasse und Tschebotareff im September 1925 auf der DMV-Tagung in Danzig zusammengetroffen waren.76 Obwohl Tschebotareff auf dieser Tagung nicht über ein zahlentheoretisches Thema vortrug, so können wir annehmen, dass sich beide über ihre zahlentheoretischen Interessen und Resultate ausgetauscht haben. Insbesondere wird Hasse bei dieser Gelegenheit die Ergebnisse der in Rede stehenden Odessa-Arbeit von Tschebotareff kennengelernt haben. Wir wissen nicht, ob Hasse schon dabei einen Sonderdruck von Tschebotareff erhalten hatte. Jedenfalls hat er am 9.Oktober 1925, also drei Wochen nach seinem Treffen mit Tschebotareff, in sein Tagebuch einen Eintrag geschrieben mit dem Titel:

Eine Arbeit von Tschebotareff.“ 

Hierin gab er eine präzise und durchsichtige Darstellung des Resultats (25) von Tschebotareff. Das Datum dieses Eintrags liegt einen Tag vor dem Datum des oben genannten Eintrags zum Satz von Furtwängler. Es ist evident, dass beide Einträge zusammengehören und auf Hasses Kontakt mit Tschebotareff auf der Danziger DMV-Tagung zurückgehen.77

Vielleicht wurde Tschebotareff schon in Danzig von Hasse dazu angeregt, sein Resultat in geeigneter Form zu verallgemeinern auf beliebige Erweiterungen von Zahlkörpern, nicht notwendig zyklotomische Körper. Jedenfalls hat sich Hasse später lebhaft für die Folgearbeit [Tsc29] interessiert, in welcher Tschebotareff eben diese Verallgemeinerung durchführt, und er hat die Arbeit dann für Crelles Journal angenommen. Das entnehmen wir der Korrespondenz Hasse-Tschebotareff, die ab September 1928 erhalten ist. Tschebotareff selbst sagt in seinen Erinnerungen:

In der nächsten Zeit78 korrespondierte ich viel mit Hasse, und ich bin ihm sehr dankbar für seine grosse Aufmerksamkeit (und seine sorgfältige Redaktion), die er meinem Artikel hat zukommen lassen.“

11.3.2 Publikationen

Wir haben bereits gesagt, dass Artin seinen Satz, den er in diesem Brief aufgestellt hatte, niemals publiziert hat. Später, im Jahre 1931, findet sich eine Publikation des Artinschen Satzes, samt Beweis, in einer Comptes-Rendus-Note von Chevalley [Che31] (Sitzung vom 2.Februar 1931). Fast gleichzeitig finden wir diesen Satz in einer Arbeit von Herbrand [Her32]. Jene Arbeit ist zwar erst 1932 erschienen, aber sie ist datiert im Februar 1931, im selben Monat wie die CR-Note von Chevalley. Herbrand war mit Chevalley eng befreundet aber, wie aus den Publikationen hervorgeht, haben beide diesen Satz unabhängig voneinander gefunden.79

Da beide, Chevalley und Herbrand, in jener Zeit engeren Kontakt zu Artin und Hasse hatten, so liegt zunächst die Vermutung nahe, dass zumindest die Motivation zu diesem Satz sich aus Gesprächen mit Artin und/oder Hasse ergeben hatte. Da das jedoch weder bei Herbrand noch bei Chevalley erwähnt wird, so ist davon auszugehen, dass der Satz (der ja naheliegt) unabhängig von beiden gefunden wurde. Weder Tschebotareff noch Furtwängler werden zitiert. In der Tat scheint auch Herbrand (wie damals Artin) die Furtwänglersche Arbeit [Fur08] aus dem Jahre 1908 nicht zu kennen, denn er schreibt:

On commence par prouver le théorème non encore démontré de Kummer sur la divisibilité du nombre des classes de k(z) par celui de ses sous-corps.“

Übrigens wurde der Artinsche Satz kurz danach noch einmal entdeckt von Otto Grün, wie aus einem Brief Grüns an Hasse vom 6.Dezember 1932 hervorgeht. Hasse machte Grün dann sofort darauf aufmerksam, dass der Satz bekannt war. Das Studium der Teilbarkeit von Klassenzahlen führte Grün schließlich zu seinen bekannten gruppentheoretischen Verlagerungssätzen; vgl. [Roq05a].