46.1 Der letzte Brief über Faktorensysteme

Dies ist der letzte Brief der Serie, die am 9.3.1932 begonnen hatte, und die sich mit dem Rechnen mit Faktorensystemen befasst.

Zunächst bedankt sich Artin für „das Manuskript“. Es handelt sich dabei um das Manuskript der Arbeit über die Struktur der Brauerschen Gruppe, das 1933 in den Mathematischen Annalen erschien [Has33a]. Hasse hatte dieses Manuskript kürzlich fertiggestellt und an Emmy Noether zu ihrem 50.Geburtstag am 23.3.1932 mit einer Widmung geschickt. Aus dem vorliegenden Brief entnehmen wir, dass Hasse ein Exemplar des Manuskripts gleichzeitig an Artin geschickt hatte.

Wie bereits in 42.1 gesagt, geht es bei diesen Rechnungen um die Frage der Verallgemeinerung der Klassenkörpertheorie auf den galoisschen, nicht notwendig abelschen Fall. Offenbar hatte Hasse angefragt, ob Artin Ideen hätte, um die Methoden seines Manuskripts für galoissche Körpererweiterungen zu verallgemeinern. Darauf antwortet nun Artin, dass man Hasses Arbeit „gleich so lesen kann, dass der allgemeine galoissche Fall herauskommt“.

Die Bemerkung 1.) bezieht sich auf das Lemma (2.5) der Hasseschen Arbeit. Es handelt sich um den Satz (in der heutigen Terminologie), dass die Brauer-Gruppe von Z0|k vermöge Inflation injektiv in die Brauer-Gruppe von Z|k eingebettet wird. Bei Hasse wird das im zyklischen Fall nachgerechnet. Artin erwähnt, wie der Satz im allgemeinen Fall mit Hilfe von Faktorsystemen zu formulieren ist. Allerdings erwähnt bereits Hasse in seinem Manuskript, dass diese allgemeine Tatsache „bereits von R.Brauer in §3 seiner Arbeit hergeleitet“ wurde, wobei er sich auf die 1928 in der Mathematischen Zeitschrift erschienene Arbeit von Brauer bezieht [Bra28]. Übrigens war derselbe Satz (im zyklischen Fall) kurz vor diesem Brief auch von Albert im American Journ. of Math. 1932 gezeigt worden [Alb32]; Hasse zitiert auch die Albertsche Arbeit.

Die Bemerkung 2.) im Artinschen Brief bezieht sich auf das Rechnen mit Kongruenzen bei Faktorensystemen . Aus heutiger Sicht wäre das eine Selbstverständlichkeit, da es sich ja um Abbildungen von Kohomologiegruppen auf gewisse Faktorgruppen handelt.

Der Artinsche Brief enthält zur Illustration wieder einige numerische Beispiele. Insgesamt jedoch war die Ausbeute der abstrakten Rechnungen für Artin ziemlich enttäuschend, wenn wir seine Bemerkung richtig deuten:

Es kommt also nicht mehr heraus als in ihrer Crelle-Arbeit steht, wo Sie die Algebrengruppe einführen. Das ist der abstrakte Kern von allem.

Wenn sich Artin dabei auf Hasses „Crelle-Arbeit“ bezieht, so meint er offenbar die von Hasse gemeinsam mit R.Brauer und E.Noether publizierte Arbeit mit dem Beweis der Zyklizität der einfachen Algebren über Zahlkörpern [BHN32]. Dort hatte Hasse zwar nicht die Algebrengruppe eingeführt (das war schon vorher von Richard Brauer in [Bra28] getan worden), aber Hasse hatte in [BHN32] einen „Zerlegungssatz“ für Primstellen eines Zahlkörpers in einem galoisschen Erweiterungskörper formuliert. In diesem Sinne hatte also Hasse die Brauersche Gruppe in die Zahlentheorie eingeführt, mit dem Ziel einer Erweiterung der Klassenkörpertheorie vom abelschen auf den allgemein galoisschen Fall.167 Das ist es offenbar, was Artin meint.

Auch die Artinsche Bemerkung in Punkt 5.) seines Briefes deutet auf das Ziel einer Verallgemeinerung de Klassenkörpertheorie auf den galoisschen Fall, wenn er sagt, dass dies „noch nicht das letzte Wort“ sei.

Am Schluss seines Briefes sagt Artin, dass er im Sommersemester 1932 über die Hassesche Arbeit eine Vorlesung halten will. Das ist um so bemerkenswerter, als Artin ja gerade selbst bedeutende Vereinfachungen in der Klassenkörpertheorie erzielt hatte, worüber er Ende Februar in Göttingen drei Vorträge gehalten hatte.168 Es scheint also, dass Artin in Hasses Arbeit noch weitere Vereinfachungen entdeckt hat, die er in seiner Vorlesung behandeln will. Allerdings konnten wir nicht feststellen, ob Artin in seiner Vorlesung im Sommersemester dazu gekommen war; siehe 40.1.