42.1 Der erste Brief über Faktorensysteme.

Dieser Brief ist der Beginn einer Serie von 5 Briefen, in denen Artin die Grundregeln des Rechnens mit Faktorensystemen entwickelt. Faktorensysteme waren aufgetaucht in der Theorie der Algebren, oder „hyperkomplexen Systeme“ wie Emmy Noether sie nannte. In ihrer Göttinger Vorlesung 1929 hatte Noether diese Faktorensysteme eingeführt und gezeigt, dass sich jede einfache zentrale Algebra A als verschränktes Produkt mit einem geeigneten Faktorensystem darstellen läßt.160 Ist k der Grundkörper und K|k ein galoisscher Zerfällungskörper mit Galoisgruppe G, so ist A eindeutig (bis auf Äquivalenz) charakterisiert durch das zugehörige Element in der Kohomologiegruppe H2(G,K×). Zur damaligen Zeit gab es jedoch noch keine algebraische Kohomologietheorie, und daher rechnete man explizit mit Faktorensystemen modulo zerfallenden Faktorensystemen. Emmy Noether hat ihre Theorie der Faktorensysteme niemals publiziert. Sie hatte jedoch Hasse die Erlaubnis gegeben, diese Theorie in seiner amerikanischen Arbeit über zyklische Algebren darzustellen. Diese Arbeit ist 1932 in den Transactions of the American Mathematical Society erschienen [Has32b]. Später ging die Theorie der Faktorensysteme in den Ergebnisbericht von Deuring über Algebren ein [Deu35a].

Wir können annehmen, dass Artin über die Noethersche Theorie informiert war.

Seit seiner Studienzeit war es für Artin ein zentrales Problem, an das Zerlegungsgesetz für nicht-abelsche galoissche Erweiterungen zu gelangen. Damals hegte man die Hoffnung, dass die Faktorensysteme einen Zugang zu dieser Frage öffnen können. Das war sicherlich eine Motivation Artins bei seinen Rechnungen mit Faktorensystemen. Wenn sich Artin in seinem Brief bei Hasse für „den Sonderabdruck“ bedankt, dann handelt es sich wahrscheinlich um den Sonderabdruck der Arbeit von Brauer-Hasse-Noether über das Lokal-Global-Prinzip für Algebren; die Arbeit war in dem Hensel-Festband des Crelleschen Journals Anfang Januar 1931 erschienen. Am Schluss dieser Arbeit werden Folgerungen für galoissche, nicht notwendig abelsche Erweiterungen von Zahlkörpern diskutiert, und es heißt:

Man kommt so zu Sätzen, die als Verallgemeinerung von Hauptsätzen der Klassenkörpertheorie auf allgemeine relativ-galoissche Zahlkörper anzusehen sind.

Wahrscheinlich hatte Hasse in seinem Brief an Artin hierauf hingewiesen und auch noch ein paar weitergehende Überlegungen mitgeteilt. So ist es zu verstehen, wenn Artin sagt, er habe „inzwischen auch über die Dinge nachgedacht“.

Der von Hasse in der genannten Crelle-Arbeit aufgestellte Zerlegungssatz für eine galoissche Zahlkörpererweiterung K|k mit Gruppe G bezieht sich auf die Brauer-Gruppe Br(K|k) der von K zerfällten einfachen zentralen k-Algebren. Es sei p ein Primideal aus k, das in K nicht verzweigt ist, und f der Relativgrad der Primteiler von p in K. Dann gilt:

Zerlegungssatz: f ist der kleinste Exponent, für den Apf ~ 1 für alle Algebren A  (- Br(K|k).

Allerdings entspricht dieser Satz nicht recht den Erwartungen, die man an die Klassenkörpertheorie galoisscher Erweiterungen stellte. Die Brauergruppe Br(K|k) ist eine unendliche Gruppe (falls nicht der triviale Fall K = k vorliegt), und man kann daher Br(K|k) nicht als äquivalent für die Strahlklassengruppen aus der abelschen Klassenkörpertheorie ansehen. Man suchte daher, ausgehend von dem obigen Zerlegungssatz, nach anderen Beschreibungen der Zerlegung von Primidealen p, d.h. nach einer Beschreibung des Relativgrades f von p. Das ist der Ausgangspunkt der Artinschen Rechnungen.

Diese Rechnungen zeichnen sich aus durch ihren abstrakten Ansatz. Artin abstrahiert von der Deutung der Faktorensysteme als Bestimmungsstücke für Algebren, und er benutzt lediglich die formalen Rechenregeln.Das kommt besonders deutlich zum Ausdruck in dem Beweis der Formel (3) in Abschnitt 2.), welche besagt, dass die Gruppenordnung die 2-Kohomologie annulliert. Diese Rechnung ist nichts anderes als eine Übung im Rechnen mit 2-Kohomologie in einem (multiplikativ geschriebenen) G-Modul. Und mehrere andere Passagen haben denselben Charakter, so z.Bsp. in Abschnitt 5.), wo das heute so genannte „Lemma von Shapiro“ für die 2-Kohomologie bewiesen wird; dadurch wird die Berechnung der p-adischen 2-Kohomologie zurückgeführt auf die Zerlegungsgruppe ZP zu einem Primidealteiler P von p, auf dessen Wahl es nicht ankommt.

Heute würden wir die Artinschen Rechnungen wie folgt beschreiben: Es bedeute Dp die Gruppe derjenigen Ideale von K, die nur Primteiler P von p enthalten. Es ist dann Dp die direkte Summe

       sum 
Dp =     DP
      P|p

wobei DP die von P erzeugte zyklische Gruppe bedeutet; sie ist zu Z isomorph. Nach dem „Lemma von Shapiro“ ist dann

H2(G, Dp)  ~~  H2(ZP, DP)  ~~  H2(ZP, Z)

wobei der zweite und dritte Term sich auf ein festgewähltes P|p beziehen. Artin schreibt für die Zerlegungsgruppe ZP auch einfach Z. Sei n die Ordnung von G. Aus der exakten Sequenz

0 -----Z --n--Z -----Z/n  -----0

lesen wir ab, dass

                                            n
H1(Z, Z) = 0-----H1(Z, Z/n) ----- H2(Z,Z) -----0

und somit

H2(Z, Z)  ~~  H1(Z, Z/n) = Hom(Z, Z/n)

wobei rechts die Charaktergruppe von Z steht, die isomorph ist zur Faktorkommutatorgruppe von Z. Die obige Rechnung gilt für alle p, ob verzweigt oder nicht. Wenn nun p unverzweigt ist, dann ist die Zerlegungsgruppe Z zyklisch, und dasselbe gilt dann für ihre Charaktergruppe.

All diese Isomorphismen werden von Artin explizit ausgerechnet. Er kann somit einem Faktorensystem cs,t von G in K× für jedes Ideal p einen Charakter h der Zerlegungsgruppe ZP zuordnen. Im unverzweigten Fall ist der Frobenius-Automorphismus definiert, den Artin als [  ]
 KP- bezeichnet. Die Anwendung von h liefert dann eine bestimmte Restklasse modulo n, und nach Division mit n eine bestimmte Restklasse modulo 1. Artin stellt fest (im Brief Nr.45), dass dies genau die p-adische Hasse-Invariante der durch cs,t definierten einfachen Algebra ist.

In Richtung einer nicht-abelschen Klassenkörpertheorie ist das Ergebnis der Rechnungen jedoch für Artin enttäuschend. Er stellt fest, dass im nichtabelschen Fall einfach die

alte Methode herauskommt, die Klassenkörpertheorie anzuwenden auf Unterkörper in Bezug auf die der ganze Körper zyklisch ist“.

Und er sagt:

Ich habe den Eindruck, dass noch etwas ganz Neues hinzukommen muss

Die weitere Entwicklung hat dies bestätigt. Bemerkenswert ist, dass Artin dies schon so früh erkannt hat, schon im März 1932. Allerdings hatte man damals noch keine Vorstellung davon, wie diese ganz neuen Ideen aussehen könnten. Die Klassenkörpertheorie für galoissche Erweiterungen hat erst viel später durch die Ideen von Langlands einen neuen Impetus erfahren.

Die Artinschen Versuche in diesen Briefen, ein „Zerlegungsgesetz“ als Kongruenzbedingung für die Faktorensysteme nach einem geeigneten Modul zu formulieren, sind also im nichtabelschen Fall nicht gelungen. Immerhin sind die Artinschen Rechnungen als ein erster Schritt anzusehen, die gesamte Klassenkörpertheorie auf der Kohomologietheorie aufzubauen. Nachdem der Formalismus der Kohomologie der Gruppen hinreichend weit entwickelt worden war, stellte sich heraus, dass dies ein sehr starkes Hilfsmittel zur Behandlung der Klassenkörpertheorie wurde. Sie gipfelte schließlich in dem bekannten Werk von Artin-Tate [AT68].

Wir können feststellen, dass diese Entwicklung mit den hier vorliegenden Artin-Briefen ihren Anfang genommen hat.

Hasse jedoch hat die Durchdringung der Klassenkörpertheorie mit Begriffen und Methoden der Kohomologietheorie nicht mehr in demselben Maße mitgetragen. In seinem Vortrag über die Geschichte der Klassenkörpertheorie [Has66] äußert er seine Meinung, dass dadurch „die scharf profilierten Linien und individuellen Züge“ der Klassenkörpertheorie „an Leuchtkraft und Plastizität etwas eingebüßt haben.“ Damit meinte er, dass in den Algebren noch viel mehr arithmetische Informationen enthalten seien, die nicht allein durch die Kohomologie erfasst werden; so etwa hat er sich zu uns bei mehreren Gelegenheiten geäußert.