13.1 Zum Hauptidealsatz

Der Hauptidealsatz der Klassenkörpertheorie besagt, dass jedes Ideal a eines Zahlkörpers k im Hilbertschen Klassenkörper K von k zu einem Hauptideal wird; in der damals geläufigen Sprache hieß das: „a kapituliert in K“.

Bereits vor zwei Wochen, als Artin an Hasse über seinen Erfolg beim Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes berichtete, hatte er sofort daran gedacht, dieses Gesetz zum Beweis des von Hilbert vermuteten Hauptidealsatzes der Klassenkörpertheorie anzuwenden; vgl. Brief Nr.8 vom 17.7.1927. Damals hatte Artin es noch für möglich gehalten, dass der Hauptidealsatz im allgemeinen vielleicht falsch sein könne, weil er nämlich mit seinen Beweisansätzen nicht ohne weiteres durchgekommen war. In jedem Falle war aber Artin schon damals davon überzeugt, dass es wenn überhaupt dann einen rein gruppentheoretischen Beweis geben müsse, in dem die Zahlentheorie keine Rolle mehr spielt. Denn aufgrund seines allgemeinen Reziprozitätsgesetzes, so schwebte es ihm vor, könne dem Hauptidealsatz eine gruppentheoretische Formulierung gegeben werden.

13.1.1 Verlagerung

In dem vorliegenden Brief wird dies nun von Artin präzisiert. Heute formulieren wir den entsprechenden gruppentheoretischen Satz so:

Die Verlagerung einer zweistufig metabelschen endlichen Gruppe G in ihre Kommutatorgruppe C verschwindet.

Das ist der Inhalt der eingerahmten Formel in Artins Brief.

Damals gab es jedoch den gruppentheoretischen Begriff der Verlagerung noch nicht. Dieser Begriff entwickelte sich erst danach, und zwar gerade im Zuge der Überlegungen zum Hauptidealsatz der Klassenkörpertheorie. Der Name „Verlagerung“ wurde von Hasse in seinem Klassenkörperbericht Teil II eingeführt, und er wurde dann ins Englische mit „transfer“ übersetzt.

Aber: Die Rechnungen für die Verlagerungsabbildung finden sich bereits in einer alten Arbeit aus dem Jahre 1902 von I.Schur [Sch02], allerdings ohne dass Schur dafür einen besonderen Namen einführt.98 Deshalb ist Schur als der Entdecker der Verlagerungsabbildung zu nennen. Es scheint, dass weder Artin noch Hasse diese Arbeit von Schur gekannt haben, denn sie wird in der Korrespondenz nicht erwähnt, und auch nicht in der Publikation [Art29]. Auch Schreier hat die Schursche Arbeit damals wohl nicht gekannt, denn sonst hätte er Artin sicherlich darauf aufmerksam gemacht. Wir können also davon ausgehen, dass die Schurschen Überlegungen damals noch nicht allgemein bei den Gruppentheoretikern präsent waren. Die Verlagerungsabbildung ist demnach durch Artin und Schreier selbständig wiederentdeckt worden. Übrigens ist die Homomorphie-Eigenschaft der Verlagerung im gruppentheoretischen Kontext erst durch Hasse in seinem Klassenkörperbericht II [Has30a] formuliert und bewiesen worden. In diesem Brief und in der Artinschen Arbeit [Art29] wird sie im Kontext der arithmetischen Anwendungen als selbstverständlich behandelt.

Erst 1934 erwähnt Iyanaga in [Iya34], dass sich die Verlagerungsabbildung schon bei I.Schur findet. Da jene Arbeit von Iyanaga unter dem Einfluss von Artin verfasst worden war, so ist anzunehmen, dass Artin inzwischen, also vor 1934, auf die Schursche Arbeit aufmerksam gemacht worden war.

Die Artinschen Rechnungen in diesem Brief ergeben eine gruppentheoretische Deutung der Einbettung der Idealklassengruppe eines Zahlkörpers in die Idealklassengruppe seines absoluten Klassenkörpers. Vermöge des Artinschen Reziprozitätsgesetzes spiegelt sich diese Einbettung wider in der Verlagerungsabbildung einer zweistufig metabelschen endlichen Gruppe in ihre Kommutatorgruppe. Das ist der Inhalt der linken Seite in der eingerahmten Formel des Briefes. Die Formel selbst behauptet, dass diese Verlagerungsabbildung verschwindet, und das wiederum bedeutet, dass jedes Ideal des Grundkörpers in seinem absoluten Klassenkörper zu einem Hauptideal wird, also „kapituliert“, wie man damals sagte.

13.1.2 Beweisversuche

Artin erklärt in seinem Brief auch, dass er für eine Reihe von Gruppen die Richtigkeit des gruppentheoretischen Hauptidealsatzes nachgeprüft habe. Es ist erstaunlich, dass er innerhalb von zwei Wochen alle in dem Brief aufgezählten Gruppentypen diskutiert hat. Wie er angibt, hat er dabei die Hilfe von Otto Schreier in Anspruch nehmen können. Artin und Schreier haben stets eng zusammengearbeitet. Die gruppentheoretische Dissertation von Schreier (Wien 1923 bei Furtwängler), auf die Artin in seinem Brief verweist, enthält in ihrem Teil II [Sch26a] eine Reihe von Rechnungen über zweistufig metabelsche Gruppen, die für den vorliegenden Zweck relevant sind.

Die Exposition, wie sie Artin hier im Brief an Hasse gibt, ist fast identisch mit der später (1929) publizierten Arbeit in den Hamburger Abhandlungen mit dem Titel: „Idealklassen in Oberkörpern und allgemeines Reziprozitätsgesetz[Art29]. Diese Arbeit ist datiert im November 1928. Demnach hat Artin sein Manuskript von August 1927, dem Datum des vorliegenden Briefes, bis zum November 1928 liegen gelassen, ohne es zu publizieren. Der Grund dafür mag sein, dass Artin weiterhin intensiv versuchte, seinen gruppentheoretischen Hauptidealsatz zu beweisen. In der Tat schreibt Artin zwei Wochen später (am 19.8.1927 im Brief Nr.15) ziemlich verzweifelt: „es ist nur der letzte, auf den ersten Blick am einfachsten scheinende Schritt zu tun, und man kommt nicht vom Fleck“.

13.1.3 Furtwänglers Beweis

Furtwängler in Wien kannte die Artinschen Überlegungen, die in dem vorliegenden Brief beschrieben werden; wir wissen allerdings nicht, ob ihm Artin das geschrieben hatte oder ob er durch seinen Kontakt mit seinem früheren Schüler Schreier davon gehört hatte. Auf dieser Basis ist es ihm dann 1928 gelungen, den Beweis durchzuführen. Wie von Artin konzipiert, handelt es sich um einen rein gruppentheoretischen Beweis, ohne explizite Bezugnahme auf den klassenkörpertheoretischen Ursprung. Erst nachdem Furtwängler der Beweis gelungen war, hat auch Artin seine Überlegungen zur Publikation gegeben. Beide Arbeiten, sowohl die von Artin [Art29] als auch die von Furtwängler [Fur29], erschienen 1929 im selben Band der Hamburger Abhandlungen. Sie waren aber beide schon im November 1928 fertiggestellt worden. Wir entnehmen das dem Brief Nr.19 vom 4.November 1928, in welchem Artin schreibt, dass er Hasse die „Korrektur der Arbeit von Furtwängler“ schicken werde.99

Hasse hat die Bedeutung des Furtwänglerschen Beweises sofort erkannt. Wenig später, am 26.November 1928 schreibt er in einem Brief an Mordell u.a. folgendes:

…Vielleicht ist es nicht ohne Interesse für Sie, zu erfahren, dass ganz kürzlich Furtwängler, auf dem Boden der Artinschen Arbeit, den Hauptidealsatz der Klassenkörpertheorie (vgl. meinen Bericht, S.45) vollständig bewiesen hat, durch Reduktion auf eine Frage in der Theorie der endlichen Gruppen.

Hier bezieht sich Hasse auf seinen Klassenkörperbericht, Teil I aus dem Jahre 1926, wo er den Hauptidealsatz als eines der ungelösten Probleme aus der Klassenkörpertheorie aufgeführt hatte.

Hasse hat den Furtwänglerschen Beweis in seinen Klassenkörperbericht II aufgenommen. Allerdings scheint das nicht von vorneherein klar gewesen zu sein. In dem Brief Nr.20 vom 14.11.1928 drängt Artin darauf, dass Hasse doch den Beweis von Furtwängler in seinen Bericht aufnehmen möge – wenn aus Platzgründen nicht anders möglich dann doch zumindest für den Fall von drei „Basisklassen“, d.h. wenn die in Rede stehende Gruppe drei Erzeugende modulo der Kommutatorgruppe besitzt. Dieser Fall, so schreibt Artin, zeige ja die Dinge vollständig und sei kurz genug. Offenbar hatte Hasse zunächst gezögert, wahrscheinlich weil der Furtwänglersche Beweis ihm zu undurchsichtig und außerdem zu lang war. (Der Beweis in [Fur29] umfasst 22 Seiten.) Der Artinsche Vorschlag in jenem Brief hat Hasse dann offenbar doch bewogen, den Furtwänglerschen Beweis zu übernehmen, allerdings nur soweit, „dass das Gerüst des Beweises klar zutage tritt“, wie es in [Has30a] heißt. Insbesondere nur für drei Basisklassen.

Interessant sind dabei die gruppentheoretischen Vorbemerkungen, in denen Hasse rein gruppentheoretisch nachweist, dass die Verlagerungsabbildung ein Homomorphismus ist. Das findet sich bei Furtwängler nicht, weil dort die in Rede stehende Homomorphie-Eigenschaft aus der Zahlentheorie gefolgert wird: die durch Einbettung gegebene Abbildung der Idealklassengruppe eines Zahlkörpers in die Idealklassengruppe eines Erweiterungskörpers ist trivialerweise ein Homomorphismus. Demnach hat also erst Hasse in seinen Vorbemerkungen die Grundeigenschaften der Verlagerungsabbildung rein gruppentheoretisch begründet – ohne allerdings zu wissen, dass das Schur schon 1902 gemacht hatte, in der bereits oben zitierten Arbeit [Sch02].

Bei der Darstellung des Furtwänglerschen Beweises hat sich Hasse bemüht, statt der Matrizen bei Furtwängler die Sichtweise der modernen Algebra zu benutzen, d.h. von Operatorgruppen und Darstellungen zu sprechen. Er schreibt dazu, dass er sich u.a. die Arbeit von Emmy Noether [Noe29] über „Hyperkomplexe Größen und Darstellungstheorie“ zum Vorbild genommen habe. Allerdings kann Hasse dies nicht vollständig durchhalten; er muss schließlich doch explizit mit Matrizen und Determinanten rechnen, wie Furtwängler. Im Nachhinein können wir sehen, woran das gelegen hat: Er hat nämlich wie Furtwängler mit einer Basis der Faktorkommutatorgruppe operiert, und solche Basen führen zu Matrizendarstellungen. Es ist an dieser Stelle, wo sich Hasse, dem Ratschlag von Artin folgend, darauf beschränkt, nur noch den Fall von drei Basisklassen im einzelnen auszuführen, da dann nur dreireihige Matrizen erscheinen. Danach sagt dann Hasse:

Der durch vollständige Induktion zu erbringende allgemeine Beweis erfordert zwar noch recht ausgedehnte Überlegungen und Rechnungen. Jedoch sind die Schwierigkeiten rein kombinatorischer Natur. …Es wäre zu wünschen, dass …ein von komplizierten formalen Rechnungen freier Beweis dieses Satzes gegeben würde.“ 

Dieses Desideratum wurde in der Folge in der Tat realisiert.

13.1.4 Die weitere Entwicklung

Nicht nur Hasse war der Meinung, dass der Furtwänglersche Beweis vielleicht zu umständlich und nicht so durchsichtig war, wie man es sich wünschte. So berichtet z.Bsp. Olga Taussky in ihren Erinnerungen [Tau81] über ein Göttinger Seminar (1931) bei Emmy Noether:

Once the proof of Furtwängler of the Hauptidealsatz came up and Emmy Noether repeated what almost everybody said, namely that it was an unattractive proof.“ 

Sie berichtet weiter, dass sie daraufhin leidenschaftlich die Sache ihres akademischen Lehrers Furtwängler verteidigt hatte. Das war natürlich nicht notwendig, denn Furtwängler war ein weithin anerkannter Mathematiker, dessen Resultate wesentliche Beiträge zur Zahlentheorie lieferten; insbesondere sein Beweis des Hauptidealsatzes wurde von der mathematischen Fachwelt als eine große Leistung anerkannt und gewürdigt. Nichtsdestoweniger war und ist das Streben nach Vereinfachung eine wichtige Motivation für den Fortschritt in den mathematischen Wissenschaften (und nicht nur dort). Hasse benutzte dafür oft den Terminus „Durchsichtigkeit“, den ein mathematischer Beweis haben solle; das helfe, den Sachverhalt besser zu verstehen. So war es auch im Falle des Furtwänglerschen Beweises. Man begann, nach Vereinfachungen und „durchsichtigen“ Beweisen zu suchen.

Die erste Vereinfachung stammte von Magnus.100 Seine Arbeit über den Hauptidealsatz erschien 1934 im Crelleschen Journal [Mag34]. In dem von Bernhard Neumann verfassten Jahrbuch-Referat heißt es dazu:

Den Satz beweist Verf. nun in wesentlich vereinfachter Form unter Heranziehung der von O.Schreier [Sch26a] und K.Reidemeister [Rei26] geschaffenen Methoden für die Untersuchung von Gruppen, die durch Erzeugende und definierende Relationen gegeben sind.

Im selben Jahr erschien dann die Arbeit [Iya34] von Iyanaga in den Hamburger Abhandlungen. In dem von Arnold Scholz angefertigten Jahrbuch-Referat heißt es:

Nachdem vor kurzem Magnus eine Beweisvereinfachung für den Furtwänglerschen Hauptidealsatz geliefert hat, folgt hier nun eine weitere Vereinfachung, die den Beweis vor allem auch durchsichtiger gestaltet“ 

Im Vorwort sagt Iyanaga, dass der größte Teil der Arbeit zusammen mit Artin entstanden sei; demnach ist anzunehmen, dass die wesentlichen Ideen zur Vereinfachung von Artin stammen. Wesentlich für den neuen Beweis ist der Satz von Artin über die Existenz einer Zerfällungsgruppe: Ist U abelscher Normalteiler der Gruppe G, so lässt sich eine Obergruppe G von G finden, die wiederum einen abelschen Normalteiler U enthält derart, dass GU = G und G  /~\ U = U, und dass G über U zerfällt. Dadurch kann das Problem auf den Fall einer zerfallenden Gruppenerweiterung zurückgeführt werden, und in diesem Fall werden die Verlagerungsformeln sehr einfach.

Als kleine Nebenbemerkung sei angefügt, dass Emmy Noether daraufhin versucht hatte, den Beweis von Iyanaga noch weiter zu vereinfachen. Am 31.Oktober 1934 schrieb sie nämlich von Bryn Mawr aus an Hasse:

…Noch eine etwas prinzipiellere Sache habe ich mir anläßlich eines Vortrags beim New Yorker Meeting überlegt: Man kann vom Artin-Iyanaga-Beweis des Hauptidealsatzes den ganzen §3 streichen, mit Ausnahme von 3 Zeilen auf der letzten Seite

Allerdings stellte sich heraus, dass sie dabei einem Fehlschluss erlegen war, worauf sie Hasse in seiner Antwort aufmerksam machte.

Der Beweis von Iyanaga-Artin wurde von Zassenhaus in sein 1937 erschienenes Lehrbuch der Gruppentheorie [Zas37] aufgenommen und dadurch weithin bekannt. Der Beweis ist gültig nicht nur für endliche Gruppen, sondern die Endlichkeitsvoraussetzung kann etwas abgeschwächt werden: die Faktorkommutatorgruppe soll endlich sein, und die Kommutatorgruppe jedenfalls endlich viele Erzeugende besitzen. Witt [Wit36] zeigte, dass diese Voraussetzungen nicht entbehrt werden können.

Eine weitere Vereinfachung schließlich gab Witt auf dem internationalen Mathematikerkongress in Amsterdam 1954 [Wit54]. Witt linearisiert das Problem und wandelt die Verlagerungsabbildung in eine gleichwertige additive Homomorphie um. Diese „Linearisierung“ der Verlagerung gab den Anstoß, dass die gruppentheoretische Verlagerungsabbildung schließlich in den Rahmen der homologischen Algebra eingefügt wurde; vgl. Cartan-Eilenberg [CE56].

13.1.5 Verallgemeinerung

Zu Beginn seines Briefes sagt Artin, dass sich seine Methode noch auf „beliebige galoissche Körper in einem gewissen Sinn“ anwenden lasse. Was meint Artin damit?

Vielleicht hatte Artin damals schon die Verallgemeinerung im Auge, die später (1931) von Iyanaga [Iya31] gegeben wurde. Iyanaga spricht von einem „allgemeinen Hauptidealsatz“. Es handelt sich dabei um die folgende Situation:

Statt des Hilbertschen Klassenkörpers betrachtet man den Strahlklassenkörper K|k zu gegebenem Führer f. Gesucht ist ein Modul F in K derart, dass alle Ideale des Grundkörpers k in den Strahl von K modulo F fallen. Die Konstruktion von F geschieht mit Hilfe der Geschlechter, und deshalb wird F der „Geschlechtermodul“ genannt. Es wird gezeigt, dass der zu F gehörige Klassenkörper K*|K zweistufig metabelsch über k ist, und dass gruppentheoretisch dieselbe Situation vorliegt wie beim gewöhnlichen Hauptidealsatz. Demnach kann der Beweis von Furtwängler angewandt werden und liefert das Ergebnis. (Die späteren Beweisvereinfachungen, die wir im vorangegangenen Abschnitt 13.1.4 beschrieben haben, waren 1931 noch nicht bekannt.)

Eine andere Untersuchungsrichtung behandelt das sogenannte „Kapitulationsproblem“. Nämlich: Gegeben ein Teilkörper des Hilbertschen Klassenkörpers; welche Ideale des Grundkörpers werden in diesem Teilkörper zu Hauptidealen? Dies wird in den Briefen Nr.20-22 behandelt; wir verweisen dazu auch auf unsere dortigen Kommentare.