18 05.08.1928, Brief von Artin an Hasse


Hamburg, 5. August 1928

Lieber Herr Hasse!

Anbei Ihre Liste. Nicht erhalten haben davon in Ermangelung der Anschrift die angestrichenen Namen, also: Birkeland, Dickson, Rédei, Rychlík, Strassmann, A. Scholz, Tornier, Tschebotareff, Värman, Wilton, H. Wolff, Wusterhausen, Wiman, Walfisz1

Die Versendung ist übrigens schon vor langer Zeit geschehen, ich habe nur immer vergessen die Liste zurückzusenden. Gleichzeitig habe ich Ihnen die Hälfte der übrig gebliebenen Separate zugesendet. Sie haben sie wohl inzwischen erhalten. Sie sind an das Seminar in Halle adressiert.

Ausser Ihrer Liste haben noch einige Herren, die auf der Durchreise hier waren, wie Radon, Delone etc. Separata erhalten.

Was macht der Bericht über die R[eziprozitäts]g[esetze]? Ich beneide Sie nicht um die Arbeit die Sie damit haben werden. 2

Mathematisch habe ich von mir aus nichts Neues zu berichten. Vor ein paar Tagen hat Schreier eine Verallgemeinerung des Satzes von Jordan-Hölder über Kompositionsreihen bei Gruppen gefunden die für beliebige endliche oder unendliche Gruppen richtig ist, ohne jede Voraussetzung über die Gruppen. Es wird Sie wahrscheinlich interessieren:

Eine Normalteilerkette einer Gruppe G ist eine Kette (endliche) von Untergruppen: G,G1,G2,...,Gn = 1, die mit G beginnt, mit 1 schliesst und bei der Gn+1 Normalteiler von Gn ist. (Weggelassen ist die Voraussetzung, dass Gn+1 grösster Normalteiler von Gn ist, denn einen solchen braucht es nicht zu geben.) Eine solche Kette gibt es natürlich immer, z.B. G,1. Was unter einer Verfeinerung der Kette zu verstehen ist ist trivial; zwischen zwei Gliedern werden neue eingeschoben. Der Satz lautet nun:
„Sind zwei Ketten einer Gruppe G gegeben, so existieren Verfeinerungen, bei denen die sukzessiven Faktorgruppen, abgesehen von der Reihenfolge, isomorph ausfallen.“

In diesem Satz sind alle bekannten Sätze über Kompositionsreihen enthalten. Hat nämlich G wenigstens eine Kompositionsreihe, (also mit Maximalvoraussetzung), so ist diese definitionsgemäss nicht verfeinerungsfähig, jede andere Kette lässt sich also zu einer Kompositionsreihe verfeinern und für alle Kompositionsreihen gilt der Satz von Jordan-Hölder.

Ein gleiches gilt auch für Hauptreihen und charakteristische Reihen. Die Forderung, dass die Kette endlich sein soll, darf aber nicht weggelassen werden. Dann gibt es Gegenbeispiele (unendliche zyklische Gruppe).

Das ist doch die „wahre“ Formulierung des Satzes von Jordan-Hölder.3

Sind Sie eigentlich in den R[eziprozitäts]g[esetzen] weiter gekommen? Ihre Methode sieht so vielversprechend aus. Meine schüchternen Versuche darüber sind allerdings alle fehlgeschlagen.

Auch der gruppentheoretische Teil des Hauptidealsatzes trotzt noch immer allen Anstrengungen.4

Kommen Sie eigentlich zur Naturforschertagung nach Hamburg?5 Hoffentlich! Ich darf Sie doch dann bitten mein Gast zu sein, wenn Sie mit meiner Junggesellenbude und den damit verbundenen kleinen Unbequemlichkeiten vorlieb nehmen wollen.

Darf ich bitten Ihrer Frau Gemahlin meine ergebenen Empfehlungen zu übermitteln und seien Sie selbst herzlichst gegrüsst.

      Ihr Artin

Ich habe Separata auch noch verschickt an:

P. Alexandroff
F. Bernstein
Bochner
R. Brauer
Carathéodory
Lichtenstein
Mordell
Littlewood

Kommentare zum Brief Nr. 18:

  18.1 Der Satz von Jordan-Hölder-Schreier
  18.2 Die Hamburger Tagung 1928
  18.3 Hasses Tagebuch-Eintragung