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07.04.1935, Noether an Hasse



Inhalt:

Brief H.s an Albert. Quadr.Formen u.Algebren. Dirac. Weyl. Brauer. Erweiterung zykl.Körper zu zykl.Körper. Explizite Konstrukt.v.Normalbasen. Diss.Stauffer. Helsinki? Sommerpläne.


Bryn Mawr College, 7.4.35

Lieber Herr Hasse,

Vielen Dank für Ihre Separatensendung - ich bewundere immer wieder wieviel Sie schaffen - und für die Abschrift des Briefes an Albert.1) Die additiven verschränkten Produkte und die “Summandensysteme” - einiges ist ja in der neusten Crellearbeit von Witt schon erschienen - haben mir viel Vergnügen gemacht.2)

Brauer läßt darauf aufmerksam machen, daß der Zusammenhang zwischen quadratischen Formen und Algebren (S. 18) inkl. des Beweises der Produktdarstellung 3) H =  prod i<k(ai,ak) (Artin) den Physikern wohlbekannt ist: Dirac hat das benutzt und in einer Note von Weyl und ihm (als Assistenten), von der er eben Korrektur hatte, wird es in der Theorie der Spinoren benutzt4). Im Spezialfall der Summe von Quadraten soll es schon in dem Artikel von Cartan über hyperkomplexe Systeme, in der französischen Enzyklopädie stehen.

Daß das Zerfallen der Faktorensysteme im multipl[ikativen] Fall als notwendige und hinreichende Bedingung für die Existenz der Erweiterung bekannt ist, weiß Witt wohl? Das ist ja das Resultat von Brauer, das Sie Jahresber[icht] 44 erwähnen.5)

Brauer hat ziemlich sichere Aussicht, als Assistenz-Professor nach Toronto zu kommen; die Trustees müssen es nur noch genehmigen.6)

Die elegante sukzessive Konstruktion der zyklischen Normalform scheint mir beträchtlich vernünftiger als eine unübersichtliche direkte; die sukzessiven “Summandensysteme” sind eben die Invarianten.7)

Im Zusammenhang damit interessiert Sie vielleicht eine explizite Angabe der “Normalbasis”, die ich einstweilen für den Fall, daß die Charakteristik von K/k nicht im Grad aufgeht, von meiner hiesigen Doktorandin habe ausführen lassen.8)

Es seien E(1), ..., E(r) die irreduziblen Zentrumsidempotente des Gruppenrings (G)k der Galoisgruppe von K/k, mit k als Koeffizientenbereich. Dann gibt es zu jedem E(i) Elemente zi aus K, sodaß E(i)zi/=0. (Ist E(i) =  sum Scac, so heißt das also:  sum ziSca c/=0). Jedes Element w =  sum iE(i)zi (keine Komponente Null) ist Träger einer Normalbasis - die wS linear unabh. - und so erhält man alle Normalbasen. Geht man insbesondere von irgend einer Basis z1, ..., zn aus, so kann man die zi aus diesen wählen; erhält so eine explizite rationale Konstruktion.

Im Fall daß p im Grad aufgeht, wird man vermutlich auf die Kompositionsreihe der einfachen Darstellungen zurückgehen müssen, ähnlich wie Witt im zyklischen Fall.

Ein weiteres Resultat ist die Bestimmung der Diskriminante des Zentrums des ganzzahligen Gruppenrings - also die Klassen konj[ugierter] Elemente als Basis - zu nr . prod 1rhi/ prod 1rfi2. Dabei bedeutet r den Rang des Zentrums (Anzahl der abs[olut] irreduziblen Darstellungen), hi die Anzahl der Elemente in den einzelnen Klassen konj[ugierter] Elemente, fi die Grade der abs[olut] irreduz[iblen] Darstellungen. Insbesondere ist also dieser Bruch eine ganze Zahl, was aber vielleicht auch aus bekannten Formeln folgt (es ist schwächer als daß die Grade fi in n aufgehen; d.h. keines der beiden Resultate scheint aus dem andern zu folgen). Ich habe diese und bekannte Formeln aus der Theorie der komplementären Basen ableiten lassen.9)

Waren Sie in Helsinki10) und was machen Sie im Sommer? Ich weiß noch nicht ob ich dieses Jahr wieder komme; wenn ja wird es Ende Juni. Ich muß beim “Commencement” (Schlußfeier) besagte Doktorandin feierlich zum Doktorhut (Hood, eine Art Kapuze) vorschlagen; aufgesetzt bekommt sie den von der Präsidentin.

Herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.11)


            

Anmerkungen zum Dokument vom 7.4.1935

1Eine Abschrift dieses Briefes von Hasse an Albert, datiert am 2. 2. 1935, ist im Hasse-Nachlass erhalten. Er enthält auf 21 Seiten einen ausführlichen Bericht über die neueren Ergebnisse, die im Kreis um Hasse in Göttingen erhalten wurden, u. a. die Darstellung einer Vorstufe der Theorie der Wittschen Vektoren zur Konstruktion zyklischer Erweiterungen von p-Potenzgrad über einem Grundkörper der Charakteristik p.

2Ein “Summandensystem” ist das additive Analogon zu einem multiplikativen “Faktorensystem” im Sinne von Emmy Noether. In heutiger Terminologie handelt es sich also um 2-Zyklen in einer additiven Gruppe. Hasse berichtet über Witts Satz, dass bei einer Galois-Erweiterung K|k jedes Summandensystem der Galoisgruppe zerfällt, dass also die 2-Kohomologie der additiven Gruppe K+ verschwindet. Dieser Satz findet sich in der Tat schon in Wit:1935b , wie Noether bemerkt.

3Im oben erwähnten Brief von Hasse an Albert, auf den sich Noether bezieht, findet sich u.a. der folgende Text auf den Seiten 16-18:

You will remember my writing you about a certain connexion between general quadratic forms and linear algebras. Two years ago Artin proved that for a quadratic form

f(x) = a1x21+ ...+ anx2n , ai /= 0

with coefficients ai in an arbitrary field k (not of characteristic 2) the normal simple algebra of exponent 2 and order 4n(n+21) over k :

      prod
H  =   (ai, ak)
i<k

is an invariant. Here (a,b) denotes the generalised quaternion algebra over k generated by

u2 = a, v2 = b, vu = -uv.

Artin’s proof depends on certain identities between minors of a general symmetric matrix A = (aik) . Witt found a very much nicer and simpler proof, that shows moreover explicitly the close connexion between the form f(x) and the algebra H ...

Hasse gibt dann eine Skizze des Wittschen Beweises. Heute wird H als die “Hasse-Algebra” der quadratischen Form f bezeichnet, da sie im Falle von lokalen Zahlkörpern im wesentlichen auf die frühen Hasseschen Arbeiten über die Äquivalenz quadratischer Formen zurückgeht. Artin hatte seinen Beweis in der Vorlesung gebracht, aber anscheinend niemals veröffentlicht. Der Wittsche Beweis wurde später in Wit:1937 publiziert. Wir sehen, dass eine frühe Fassung der Wittschen Arbeit schon Emmy Noether zur Kenntnis gebracht wurde.

4Es handelt sich um die Arbeit BraWey:1935 mit dem Titel: “Spinors in n dimensions”. Zu der damaligen Zeit arbeitete Brauer am Institute for Advanced Study in Princeton als Assistent von Hermann Weyl.

5Hier geht es um die Frage, ob eine zyklische Erweiterung k|k0 von Primzahlpotenzgrad ph-1 in eine zyklische Erweiterung K|k0 vom Grad ph eingebettet werden kann. Hasse berichtet in seinem Brief an Albert, dass Witt diese Frage beantworten kann: Im Falle der Charakteristik p ist das immer möglich, im Falle der Charakteristik /=p jedoch nicht immer, und es wird dafür eine notwendige und hinreichende Bedingung angegeben. Falls k0 eine primitive p-te Einheitswurzel z enthält, so besagt diese Bedingung, dass z Norm aus k ist.

Dies läßt sich deuten als der Zerfall des durch z definierten Faktorensystems von k|k0. Noether macht nun darauf aufmerksam, dass diese Zerfalls-Bedingung nach Bra:1932b bekannt ist, und sie fragt an, ob Witt das wohl weiß. Sie verweist dazu auf Hasses Lösung einer Aufgabe, die von van der Waerden gestellt worden war, nämlich: “Welche quadratischen Zahlkörper lassen sich in zyklische Körper 4-ten Grades einbetten?” Im Jahresbericht der DMV (Band 44, 1934) gibt Hasse drei Lösungen dieser Aufgabe: eine auf klassenkörpertheoretischer Grundlage, eine auf Kummerscher Grundlage und eine mittels der Algebrentheorie. Im Anschluss an die algebrentheoretische Lösung gibt Hasse (indem er sich auf eine Mitteilung von van der Waerden stützt) eine Lösung des allgemeinen Problems der Einbettung von zyklischen Körpern in zyklische Körper, unter Verweis auf den von Noether zitierten Satz in Bra:1932b . - Übrigens findet sich im selben Band des Jahresberichts die von Hasse gestellte Aufgabe 169: “Unter welchen Bedingungen läßt sich ein über einem algebraischen Zahlkörper K0 zyklischer Körper K1 vom Primzahlgrad l in einen über K0 zyklischen Körper Kn vom Grad ln einbetten?” Das Eingangsdatum dieser Aufgabe ist der 10. 10. 1933, also eine Woche früher als das Eingangsdatum 17. 10. 1933 der Hasseschen Lösung der oben genannten van der Waerdenschen Aufgabe - in welcher Hasse nun auch gleichzeitig seine vor einer Woche gestellte allgemeinere eigene Aufgabe löst.

6Richard Brauer hatte die Stelle in Toronto auf besondere Empfehlung von Emmy Noether bekommen, die Toronto kurz zuvor besucht hatte. Brauer blieb 13 Jahre in Toronto; diese Zeit gilt als die Zeit der fruchtbarsten Jahre für Brauers Arbeit.

7Witt gelangt, wie Hasse in seinem Brief an Albert berichtet, zu einem sukzessiven Aufbau einer zyklischen Erweiterung vom Grade ph durch Teilschritte vom Grad p. Zu jedem solchen Teilschritt gehört ein “Summandensystem” im kleineren Körper, dass in dem über ihm liegenden größeren Körper zerfällt. Diese Summandensysteme sind vermöge des Spur-Operators und des Artin-Schreier-Operators miteinander verbunden. Das meint Noether offenbar, wenn sie von der “sukzessiven Konstruktion” spricht.

Ein Jahr später, im Sommersemester 1936, fand in Göttingen die legendäre Arbeitsgemeinschaft statt, in der u.a. Witt den Formalismus der heute so genannten Wittschen Vektoren fand Wit:1936a . Gestützt auf die Wittschen Vektoren gibt Witt in der genannten Arbeit tatsächlich eine “direkte” und gleichzeitig besonders “elegante” Normalform für zyklische p-Erweiterungen. Hätte Noether das noch zur Kenntnis nehmen können, dann würde sie sicherlich die direkte Normalform mit Wittschen Vektoren der “sukzessiven” Normalform vorgezogen haben.

8Es handelt sich um Ruth Stauffer. Ihre Dissertation (Bryn Mawr) erschien im American Journal of Mathematics Sta:1936 . - Die Existenz einer Normalbasis für eine beliebige Galoissche Körpererweiterung wurde wohl zuerst von Emmy Noether bewiesen Noe:1931 ; vgl. dazu auch den Brief * vom 22. 08 .1931 und die folgenden Briefe. Dort wurde allerdings der Grundkörper als unendlich vorausgesetzt; ohne diese Voraussetzung gab dann Deuring einen Beweis Deu:1932 . Dabei handelte es sich jedoch um reine Existenzbeweise. In der Staufferschen Dissertation geht es nun um die Aufstellung eines expliziten Verfahrens zur Konstruktion einer Normalbasis.

9Zu dieser Formel hat sich E. Dade auf unsere Anfrage wie folgt geäußert: “It is straight-forward and would surely have been possible at the time of Burnside and Frobenius if any one had just asked the question. Apparently nobody asked the question about the discriminant at the time.

10Wie bereits in einem Kommentar zum Brief * vom 26. 4. 1934 gesagt, hatte Hasse vorgehabt, im Herbst 1934 einer Einladung zu Vorträgen in Helsinki zu folgen. Diese Reise musste er jedoch absagen. Am 13. August 1934 schrieb Hasse aus Göttingen an Nevanlinna:

Die vergangenen Monate haben mir im Zusammenhang mit meiner Berufung nach Göttingen viele Aufregungen gebracht. Ich hatte gehofft, dass ich bis zum September über all das äußerlich und innerlich hinweg sein würde. Ich sehe aber jetzt, dass das nicht der Fall sein wird...Nach reiflicher Überlegung bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es besser ist, wenn ich meine beabsichtigte Reise zu Ihnen auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe...Ich fühle mich nicht in der Lage, mich in wissenschaftliche Fragen zu vertiefen...Und schliesslich fühle ich mich augenblicklich innerlich der Aufgabe nicht gewachsen, als Vertreter der deutschen Wissenschaft im Ausland aufzutreten...

Die turbulenten Verhältnisse in Göttingen und in der Deutschen Mathematiker Vereinigung (DMV) nach der Machtübernahme der nationalsozialistischen Regierung sind oft dargestellt worden und brauchen daher hier nicht erläutert zu werden. Die Reise von Hasse nach Finnland wurde im Oktober 1938 nachgeholt.

11Dies ist der letzte Brief von Emmy Noether an Hasse. Sie starb eine Woche später.