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26.04.1934, Noether an Hasse



Inhalt:

Glückwunsch für H. zum Ruf nach Göttingen. Klassenkörperkonstruktion u.Riemannsche Vermutung in Funktionenkörpern. Abelsche Funktionenkörper. Riemannsche Matrizen (Albert). Lefschetz. Irred. Galois-Darstellungen u.Klassenkörper. Deurings Habilitation. Finnland?


Bryn Mawr College (bis 18. Mai), 26.4.34

Lieber Herr Hasse,

Ich habe dieser Tage durch F. K. Schmidt gehört daß Sie jetzt den Ruf nach Göttingen wirklich bekommen haben, und möchte Ihnen sagen wie sehr ich mich darüber freue! Jetzt bleibt Göttingen doch Mittelpunkt! 1) Herzlichen Glückwunsch!

Aber eigentlich wünsche ich Ihnen noch mehr Glück zu Ihrer neuesten Mathematik: Hilbertsches Problem der Klassenkörperkonstruktion und Riemannsche Vermutung im Funktionenkörper gleichzeitig, das ist viel! 2)

Soviel ich übersehen kann, hängt Ihr Meromorphismenring3) eng zusammen mit den zu den Riemannschen Matrizen gehörigen Algebren, die Albert jetzt bestimmt hat (am lesbarsten im letzten Heft der Annals of Mathematics, Jan[uar] 1934 4)). Damit wären dann die Fragen erledigt, ob der Ring nichtkommutativ sein kann, und ob es transzendente Meromorphismen gibt; letzteres natürlich nur, wenn es sich bei Albert wirklich um den vollen Ring handelt, und nicht etwa nur um den Unterring aller algebraischen Meromorphismen.5) Ich will Albert morgen einmal danach fragen. Ich habe in dieser Arbeit auch gesehen, daß die Geometer schon lange die Ihrem Körper der Abelschen Funktionen entsprechende p-dimensionale Mannigfaltigkeit6) hatten; natürlich alles ohne irgend eine Idee von Zahlentheorie.7) Lefschetz und Albert waren sehr erstaunt, als ich auf einem Vortrag (beim Meeting in New York) sagte, mir schiene es daß darin in Erweiterung der komplexen Multiplikation das Material zur Lösung des Hilbertschen Problems durch Abelsche Funktionen liege. Tags darauf kam Ihr Brief daß Sie das wirklich gemacht haben! 8) Allerdings mit viel tiefergreifenden Methoden!

Wann gehen Sie nach Helsingfors - und an die finnischen Seen? 9) Und wie wird es dann mit Göttingen im Sommer? Jedenfalls rechne ich damit daß Sie irgendwann da sind, wenn auch nicht die ganze Zeit! Ich will schon in den ersten Junitagen kommen, über Hamburg wo ich wohl zwei Tage bleiben werde. Es gibt hier ja kaum Osterferien; dafür schließt das Institut in Princeton schon am 1. Mai, hier die Vorlesungen Mitte Mai. Dann gibt es hier noch Examen, wo ich nicht beteiligt bin, und einen feierlichen Aufzug zum Schluß, mit dreifach abgestuften Talaren, B.A., M.A. oder Ph.D.

Was übrigens die neulich geschickte Klasseneinteilung10) angeht, so habe ich mir unterdes immer mehr klar gemacht, daß es sich genau so um eine Übertragung alles “abelschen” handelt, wie Artin einmal alles “zyklische” übertragen hat. Damit kann man nicht an den Existenzsatz heran, schon deshalb nicht weil die Einteilung im Kleinen - d.h. für auflösbare Körper an den Verzweigungsstellen - vollständig versagt. Mir scheint daß man erst hier einmal Klarheit haben muß, d.h. nicht nur die Verhältnisse sukzessiv zyklisch mit Kompositionsreihen überblicken darf, sondern in Beziehung zu den irreduziblen Darstellungen, also zu den Galoismoduln11), und damit auch zu den Artinschen Führern. Aber im Augenblick bin ich nicht weitergekommen.

Für Deuring freue ich mich besonders über Ihr Kommen. Ich hoffe daß es in Göttingen mit der Habilitation rasch gehen wird; das hat er ja dummerweise vor Amerika versäumt, und in Leipzig scheint es sich mit den neuen Bestimmungen hinauszuziehen.12) Er hat seine Resultate vom letzten Sommer zur Riemannschen Vermutung bei Systemen quadratisch imaginärer Körper als Hab[ilitations]-Schrift ausgearbeitet.

Nun herzliche Grüße Ihre Emmy Noether.
             

Anmerkungen zum Dokument vom 26.4.1934

1Zwar hatte Hasse im April 1934 einen Ruf nach Göttingen erhalten, und er war geneigt, diesen Ruf anzunehmen, da er sich verpflichtet fühlte, die durch die Machtergreifung der NSDAP verursachten schmerzlichen Verluste im Lehrkörper wieder zu ersetzen und die Bedeutung Göttingens als internationales mathematisches Zentrum soweit wie möglich wiederherzustellen. Infolge der turbulenten Ereignisse aus Anlass seiner Berufung dauerte es jedoch bis Anfang Juli 1934, bis Hasse seine Tätigkeit in Göttingen tatsächlich aufnehmen konnte. Und der Wunsch Noethers, dass “Göttingen Mittelpunkt bleibe” konnte angesichts der politischen Entwicklung im Deutschland der folgenden Jahre trotz der Bemühungen Hasses nicht verwirklicht werden. Bereits ein Jahr später, am 18. 4. 1935, schrieb Hasse an Toeplitz: Was mich vielmehr bedrückt, ist die Tatsache, dass ich einerseits der mathematischen Welt gegenüber die Verantwortung für den Wiederaufbau Göttingens zu einem mathematischen Platz von Rang trage, mir aber andrerseits durch die bestehenden hochschulpolitischen Regelungen fast jeder entscheidende Einfluss auf die personelle Gestaltung hier genommen ist. Dies betrifft nicht nur die Besetzung der Ordinariate, sondern gilt in gleicher Weise für die Lehraufträge, Assistenten- und Hilfsassistentenstellen.” Was insbesondere die Lehraufträge betrifft, so war es Hasse nicht gelungen, einen Lehrauftrag für Deuring durchzusetzen, so wie es Noether gewünscht hatte. (Vgl. Noethers vorangegangenen Brief vom 6. 3. 1934.

2Wir wissen nicht, was F. K. Schmidt (oder Hasse selbst) an Emmy Noether geschrieben hatte. Nach ihren Bemerkungen in diesem Brief war es wohl ein Programm zur Algebraisierung der Theorie der abelschen Funktionenkörper (Charakteristik p eingeschlossen), im Hinblick auf einen Beweis der Riemannschen Vermutung für Funktionenkörper beliebigen Geschlechts. Schon in seiner ersten Publikation über die Riemannsche Vermutung in elliptischen Funktionenkörpern (in den Göttinger Nachrichten: Has:1933c ) hatte Hasse ein solches Programm angedeutet. Dieses Programm war aber noch keineswegs durchgeführt. Man bemerke, dass Noether nicht etwa Hasse zu seinen Ergebnissen gratuliert, sondern sie “wünscht ihm Glück für seine Mathematik”, d.h. Erfolg bei der Weiterarbeit an dem aufgestellten Programm. (Später stellte sich dann heraus, dass bei der Durchführung im Detail noch erhebliche Schwierigkeiten auftraten. Wie wir heute wissen, hat Hasse sein Ziel eines allgemeinen Beweises für die Riemannsche Vermutung in Funktionenkörpern nicht mehr erreicht, sondern André Weil ist ihm darin zuvorgekommen.)

Das von Emmy Noether ebenfalls erwähnte “Hilbertsche Problem der Klassenkörperkonstruktion” (das 12. Hilbertsche Problem) hat Hasse wohl niemals ernsthaft bearbeitet. Jedoch bestand damals allgemein die Erwartung, dass im Zuge der Algebraisierung der Theorie der abelschen Funktionenkörper (die Hasse anstrebte) auch Licht auf das 12. Problem von Hilbert fallen würde. Vielleicht hatte Hasse ihr von diesem Zusammenhang berichtet. (Heute wissen wir, dass dies nicht für beliebige Zahlkörper, sondern nur für die sog. CM-Körper zutrifft, also solche, die bei der komplexen Multiplikation im Sinne der Theorie der abelschen Mannigfaltigkeiten auftreten.)

3In der heutigen Terminologie handelt es sich um den Endomorphismenring einer abelschen Mannigfaltigkeit.

4 Alb:1934 .

5Dass schon für elliptische Kurven nichtkommutative Meromorphismenringe in Charakteristik p auftreten können, hatte Hasse zu diesem Zeitpunkt schon selbst entdeckt. Wahrscheinlich meint Noether die Frage, ob auch bei Charakteristik 0 und insbesondere über Zahlkörpern Nichtkommutativität auftreten kann, wenn es sich um abelsche Mannigfaltigkeiten höherer Dimension handelt.

6An dieser Stelle schiebt Emmy Noether eine Fußnote ein, die folgendermaßen lautet: Diese brieflichen Ausführungen haben mir bei der Lektüre der Korrektur sehr geholfen! Auch dies scheint uns darauf hinzuweisen, dass Hasse eine Skizze der algebraischen Theorie der abelschen Funktionenkörper gegeben hatte, so wie er sich den Aufbau vorstellte. - Es ist aber nicht klar, was Noether meint, wenn sie von “Korrektur” spricht. Meint sie vielleicht die Korrekturfahnen der oben erwähnten Arbeit von Albert Alb:1934 , die dieser ihr zur Information gegeben hatte? Oder handelt es sich um die Korrekturen der Arbeit von Hasse in den Hamburger Abhandlungen über die Riemannsche Vermutung im elliptischen Fall Has:1934c ?

7Hier bedeutet p nicht die Charakteristik, sondern das Geschlecht des Funktionenkörpers (oder der Kurve).

8Hierzu siehe die vorangegangenen Fußnoten. Hier ist wohl “gemacht” im Sinne von “konzipiert” zu verstehen.

9Diese Anspielung auf Finnland scheint die Antwort auf eine Mitteilung Hasses zu sein, dass er den finnischen Mathematiker Nevanlinna und dessen Schüler Ahlfors zu Vorträgen in Marburg erwarte. Tatsächlich fanden diese Vorträge im Mai 1934 statt. (In einem Brief an Davenport am 27. 5. 1934 äußerte sich Hasse sehr beeindruckt von den Vorträgen.) Wir wissen nicht, wann sich der Kontakt Hasses zu der finnischen funktionentheoretischen Schule ergeben hat. Nevanlinna hatte Göttingen in den zwanziger Jahren mehrfach besucht und dort auch Emmy Noether getroffen; vielleicht hatte Hasse ihn bei einer dieser Gelegenheiten kennen gelernt. Vielleicht auch hatte sich der Kontakt durch Egon Ullrich hergestellt, der sich bei Hasse in Marburg habilitiert hatte. Ullrich hatte 1927 in Helsinki studiert und dabei Nevanlinna getroffen, mit dem ihm eine lebenslange Freundschaft verband. Die Korrespondenz von Hasse mit Nevanlinna, die erhalten geblieben ist, beginnt 1932.

Hasse legte nach seiner Übersiedlung nach Göttingen im Juli 1934 Wert darauf, dass dort auch die Funktionentheorie wieder vertreten wird, und daher nahm er Ullrich als Oberassistenten nach Göttingen mit. 1936 gelang es Hasse, Nevanlinna für ein Jahr als Gastprofessor nach Göttingen zu holen. Eine Reise nach Finnland (“an die finnischen Seen”), die eigentlich für den September 1934 geplant war, konnte Hasse jedoch wegen der ungeklärten Verhältnisse am Göttinger Institut nicht antreten; er machte diese Reise erst im Oktober 1938. Vgl. den Brief * vom 7. 4. 1935.

10Vgl. die Anmerkungen zum vorangegangenen Brief * vom 6.3.1934.

11Wenn Noether hier davon spricht, dass man für die nicht-abelsche Klassenkörpertheorie die irreduziblen Darstellungen benötigt (gemeint sind Darstellungen der Galoisgruppe), so wird man an das viel später konzipierte Langlands-Programm erinnert.

12Zur Habilitation Deurings vgl. die Anmerkungen zum vorangegangenen Brief * vom 6.3.1934.