37.1 Ikosaederkörper

Artin sagt, dass die Gleichung x5 = x + 1 „keinen Affekt“ habe. Das bedeutet, dass die Galoisgruppe die volle symmetrische Gruppe ist. Diese Tatsache war seit langem bekannt, handelt es sich doch um das einfachste Beispiel einer Gleichung, die nicht durch Radikale auflösbar ist. Auch dass die Quadratwurzel aus der Diskriminante der Gleichung im galoisschen Körper K enthalten ist, zählt zu den damals wohlbekannten Tatsachen aus der klassischen Galoistheorie.94 Da die Diskriminante 2869 = 19 . 151 quadratfrei ist, so ist K über _O_ = Q( V~ -----
  2869) unverzweigt. Hierin ist die eigentliche Entdeckung Artins zu sehen.

Bislang hatte man in diesem Zusammenhang wohl nicht daran gedacht, diesen Körper auf sein Verzweigungsverhalten zu untersuchen, sonst wäre wohl die Unverzweigheit schon früher bemerkt worden, denn sie folgt ja in einfacher Weise aus der Hilbertschen Verzweigungstheorie im Hinblick auf die Struktur der symmetrischen Gruppe S5. Das hat z.Bsp. Arnold Scholz im Jahre 1934 bei der Lösung einer von van der Waerden gestellten Aufgabe nachgewiesen [Sch34]. Scholz zeigt, dass ein über Q irreduzibles Polynom von Primzahlgrad, dessen Diskriminante quadratfrei ist, stets die symmetrische Gruppe besitzt, und dass sein Galoiskörper unverzweigt über dem quadratischen Teilkörper ist. Zwar erwähnt Scholz die Unverzweigheit nicht explizit; ihm kommt es gemäß der Aufgabenstellung nur auf die symmetrische Gruppe an. Sein Beweis dafür beruht jedoch darauf, dass die Trägheitsgruppe eines Diskriminanten-Primteilers durch eine Involution erzeugt wird, und das ergibt unmittelbar die Unverzweigtheit über dem quadratischen Teilkörper.95 Übrigens: van der Waerden stand ja mit Artin in engem Kontakt, insbesondere bei der Niederschrift seines Buches „Moderne Algebra“, das weitgehend auf Vorlesungen von Artin beruhte. Im Abschnitt über Galoistheorie kommt auch x5 = x + 1 vor, als Beispiel für eine affektlose Gleichung. Hat vielleicht van der Waerden die oben erwähnte Aufgabe, die u.a. von Scholz gelöst wurde, auf Anregung von Artin in den Jahresbericht DMV gestellt?

Interessant ist auch, dass Artin (wie er schreibt) vorher nicht geglaubt hätte, dass es eine unverzweigte nicht metazyklische galoissche Körpererweiterung gibt. Er hatte also angenommen, dass die Klassenkörper und deren Iterierte bereits alle unverzweigten Körper umfassen. Einen Grund für diese Annahme nennt er dafür nicht. Es scheint also tatsächlich, was wir schon oben sagten, dass man vorher wohl nicht daran gedacht hatte, auch Artin nicht, die Verzweigungsstruktur der Gleichung x5 = x + 1 oder anderer Gleichungen ohne Affekt zu untersuchen. Artin erwähnt noch, offenbar aufgrund numerischer Rechnungen, dass die unverzweigten Ikosaederkörper „sehr häufig“ sind. Er gibt jedoch keine weiteren Beispiele. Glaubte Artin, dass die über quadratischen Körpern unverzweigten Ikosaederkörper in einem geeigneten Sinne eine positive Dichte besitzen? Das kann wohl mit Sicherheit angenommen werden, denn die Häufigkeit solcher Gleichungen wurde in der damaligen Zeit ausführlich diskutiert.

Die Motivation Artins für die Untersuchung des galoisschen Körpers von x5 = x + 1 erfährt man aus einer späteren Briefstelle, nämlich die Hoffnung, das Zerlegungsgesetz für Primzahlen in dem Galois-Körper _O_ zu „erraten“. Die Unverzweigtheit, meint Artin, sollte dazu führen, dass in den Zerlegungsgesetzenvermutlich keine Kongruenzen“ auftreten werden. Wahrscheinlich denkt er dabei an den Hilbertschen Klassenkörper, bei dem es nur auf die gewöhnliche Idealklassengruppe ankommt, in deren Definition also nicht (wie bei Strahlklassengruppen) Kongruenzen eine Rolle spielen. Es erstaunt uns heute nicht mehr, dass Artin dazu „nichts eingefallen“ ist, wie er schreibt. Die, wie wir heute wissen, vergebliche Suche nach algebraisch formulierbaren Zerlegungsgesetzen in nicht-abelschen Körpern, also die Verallgemeinerung der Klassenkörpertheorie, dominierte in diesen Jahren mehr und mehr die Arbeiten von Artin, Hasse und Emmy Noether.

Noch in späteren Jahren ist Artin in seinen Vorlesungen über Zahlentheorie gerne auf das Beispiel des Ikosaederkörpers x5 = x + 1 als unverzweigte, nicht auflösbare Erweiterung eines quadratischen Körpers zurückgekommen; das geht vielleicht auf die Überraschung zurück, die er bei der Auffindung dieses Beispiels erfahren hat, wie er es in diesem Brief zum Ausdruck bringt – er hatte ja bis dahin nicht geglaubt, dass es einen unverzweigten, nicht metazyklischen Körper gibt. Artin ist jedoch niemals in einer Publikation auf die damit zusammenhängenden Fragen eingegangen. Ungeachtet dessen hat er sich aber auch weiterhin Gedanken über unverzweigte, nicht metazyklische Zahlkörper gemacht. Wir entnehmen das einer späteren Eintragung im Hasseschen Tagebuch, datiert im Februar 1934 unter Bezugnahme auf Artin.96 Dort werden unverzweigte Zahlkörper-Erweiterungen mit beliebig vorgegebener Galoisgruppe G konstruiert. Diese Konstruktion ist nicht schwierig, weil der Grundkörper nicht festgelegt ist. Denn wenn K|k ein (evtl. verzweigter) galoisscher Körper mit der Gruppe G ist, dann erhält man nach geeigneter Grundkörper-Erweiterung k|k einen unverzweigten Körper Kk|k mit derselben Galoisgruppe G.