3.3 Zu Hasse und zur Hasse-Biographie

Schon beim zweiten Besuch in Ahrensburg vom 2. bis 6.Juli 1974 hatte ich begonnen, mich eingehender mit der Biographie von Hasse zu beschäftigen, insbesondere auch im Hinblick auf die Kommentare zu den Briefwechseln, aber auch weil mich die damit verbundenen vielfältigen Beziehungen zur deutschen Kulturgeschichte interessierten. Zwar hatte ich bis dahin schon sehr viel Persönliches von Hasse selbst über ihn und seine Vorfahren erfahren, und Hasse, der mir vollstes Vertrauen entgegenbrachte, hatte mir auch über alles bereitwillig und ausführlich Auskunft gegeben.

Relativ wenig wusste ich damals über die Zeit von 1934 bis 1945, als Hasse Direktor des Mathematischen Institutes in Göttingen war. Zuvor hatte ich über diese Zeit von Dritten, Personen in den USA, wo ich die Jahre 1968-1970 verbracht hatte, und in Kanada, wo ich seit 1970 tätig war, gelegentlich eigenartige Aussagen zu hören bekommen, allerdings nur von Leuten, die offensichtlich Dinge weitergaben, die sie auch nur irgendwo einmal von irgendwoher gehört hatten, und die sie ohne genauere Kenntnisse weitertradierten. Solcherlei Behauptungen standen jedenfalls im scharfen Gegensatz zu allem, was ich von ernst zu nehmenden Leuten gehört hatte, die Helmut Hasse wirklich gut gekannt und mit ihm auch zusammen gearbeitet hatten, etwa von Reinhold Baer, Martin Eichler und Olga Taussky, die ich selbst alle sehr gut gekannt habe, und mit denen ich auch freundschaftlich verbunden war. Sie alle sprachen nur mit der höchsten Anerkennung über Hasse als Persönlichkeit und über sein Werk. Martin Eichler betonte mir gegenüber einmal, er könne nur sagen „Hasse war ein perfekter Gentleman“. Reinhold Baer und Olga Taussky äusserten sich ähnlich. Hans Rohrbach, der seit 1932 Hasse bei der Redaktion des „Journal für die reine und angewandte Mathematik“ unterstützte und Hasse auch persönlich bestens kannte, schrieb in einem persönlichen Gutachten am 18.2.1946: „Hasse hat einen so lauteren, aufrichtigen und geraden Charakter, dass ihm jede Änderung zum Schlechten unmöglich ist. Wer Hasse anders einschätzt, urteilt oberflächlich oder von einem schiefen Standpunkt aus.“ Diese Aussage charakterisiert Hasse auf das Treffendste. Abraham Adolf Fraenkel, der wie Hasse bei Hensel in Marburg doktoriert hatte, dann in Kiel sein Kollege war und später Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem, berichtet in seinem Buch [Fra67], p.153: „Ich habe persönlich nur Gutes von ihm [Hasse] erfahren und fand ihn stets charakterlich einwandfrei“. Das entspricht auch ganz meinen eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen von Personen, denen ich später noch begegnen sollte und die Hasse persönlich gekannt hatten. Sie alle äusserten sich immer wieder in dieser gleichen eindeutigen Weise. In der Tat kann man sich kaum eine liebenswürdigere Persönlichkeit vorstellen als Helmut Hasse. Übrigens hatte ich die Autobiographie von Fraenkel [Fra67] Hasse zu seinem 78.Geburtstag geschenkt, worüber er sich sehr freute und mir berichtete, dass er Fraenkel als Kollegen in Marburg sehr gut gekannt habe und froh sei, über sein weiteres Schicksal durch seine eigene Darstellung Näheres zu erfahren.

Diese Einschätzungen wären nicht vollständig, wenn nicht auch noch gesagt würde, dass auch auf Hasse zutrifft, was van der Waerden in einem Vortrag in Graz und Heidelberg über seine Lehrmeisterin Emmy Noether berichtete: „Sie war durch und durch ein guter Mensch, frei von jedem Egoismus, frei von aller Eitelkeit, frei von Pose, und sie half immer jedem Menschen, wo sie konnte“ (s. [Fre98b], p.138). In dem Gedenkartikel über B.L.van der Waerden, in welchem ich diese Worte van der Waerdens zitierte, hatte ich weiter geschrieben, dass das Gleiche auch von van der Waerden gesagt werden kann, und hatte angefügt, dass man nie aus seinem Munde Abschätziges über Kollegen vernommen habe und dass er, wo immer er konnte, seine Schüler angespornt und gefördert habe auf der Suche nach Neuem, nach wissenschaftlicher Klarheit und letztlich auf der Suche nach über die Wissenschaft hinausreichender Weisheit. Gleiches muss auch von Hasse gesagt werden. Diese hohe Tugend, nie negativ oder abschätzig oder gar belustigend über andere gesprochen zu haben, die Emmy Noether mit van der Waerden und Hasse verbindet, ist umso höher zu werten, als sie eher selten anzutreffen ist.

Es ist daher erstaunlich, dass Hasse und auch van der Waerden leider immer wieder zur Zielscheibe in, wie es scheint, ideologisch geprägten Artikeln geworden sind. Zu den Unterstellungen gehört, sie hätten die Exzesse und Verfolgungen dieser Zeit toleriert oder gar gutgeheissen. Dazu werden manchmal Briefe oder andere Dokumente zitiert. Es genügt aber nicht, Dokumente aus ihrem Zusammenhang zu reissen, um damit eine vorgefasste Meinung zu bestätigen. Notwendig wäre es, diese Dokumente in ihrem weiteren Zusammenhang zu sehen und die Fähigkeit zu entwickeln, diese den Umständen und der Zeit entsprechend korrekt zu interpretieren und einzuordnen.

Jedenfalls ergaben sich anlässlich meines dritten und vierten Besuches in Ahrensburg vom 21. September bis 3.Oktober 1976 und vom 29. bis 31. Mai 1977 während meines Sabbatjahres am Forschungsinstitut für Mathematik an der ETH in Zürich Gelegenheiten, die Zeit von 1934 bis 1945, als Hasse Direktor des Mathematischen Institutes in Göttingen war, genauer kennenzulernen. Es befanden sich nämlich die diesbezügliche sehr persönliche Korrespondenz und die persönlichen Dokumente, die Hasse neben seiner Separata-Sammlung im Hause aufbewahrte, gerade im obersten Stock des Hauses in Ahrensburg, wo wir wieder in der Gästewohnung logieren durften. Hasse gewährte mir grosszügig freien Zutritt zu allen diesen Dokumenten, liess mich diese Dokumente studieren und gestattete mir auch, davon Kopien zu machen. Bereitwillig beantwortete er mir alle Fragen, die sich aus der Lektüre dieser Dokumente ergaben. Heute befinden sich diese persönlichen Akten in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.

Diese Akten geben nun ein klares Bild von der integren Haltung Hasses in einer äusserst schwierigen Zeit. Sie dokumentieren die Widerwärtigkeiten, denen Hasse von 1933 bis etwa 1948 ausgesetzt gewesen war, von seinem unermüdlichen, aufreibenden und unerschrockenen Bemühen, im Mathematischen Institut in Göttingen für Ordnung zu sorgen, bedrängten Kollegen, Doktoranden und Habilitanden zu helfen, einen geordneten wissenschaftlichen Betrieb aufrechtzuerhalten und die Qualität der Wissenschaft nach Möglichkeit zu fördern. Sie zeugen von einem unerschrockenen Einsatz in einer schwierigen Zeit. Es ist hier nicht der Ort, auf alle Einzelheiten aus dieser Zeit einzugehen. Einiges findet sich in meiner Biographie über Hasse [Fre77] oder ist in einer ausführlicheren Biographie für später geplant.