Bartel Leendert van der Waerden (1903–1996)

Bartel L. van der Waerden, korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie seit 1951, ist am 12. Januar 1996 in Zürich im Alter von fast 93 Jahren gestorben.

Van der Waerden wird zu den bedeutendsten Vertretern der Mathematik in unserem Jahrhundert gerechnet. Im Zeitalter der fortschreitenden Spezialisierung war er ein Generalist, einer der wenigen Mathematiker, die noch die gesamte Mathematik überblicken konnten. Zu den Gebieten, auf denen er schöpferisch tätig war und bedeutende Fortschritte erreichte, zählen die Algebraische Geometrie, abstrakte Algebra, Gruppentheorie, Zahlentheorie, Topologie, axiomatische Geometrie, Kombinatorik, Analysis, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Darüberhinaus hat van der Waerden auch außerhalb der Mathematik gewirkt: in Physik (Quantenmechanik) und Philosophie, vor allem aber in der Geschichte der Mathematik und der Astronomie, sowie der antiken Naturwissenschaften.

Van der Waerden wurde am 2. Februar 1903 in Amsterdam geboren. Sein Vater war Mathematiklehrer. Schon in der Schule kamen das mathematische Interesse und die Begabung des jungen Bartel zum Vorschein. Wie er in einem Interview erwähnt, hatte er als Schüler bereits die ganze Trigonometrie selbständig „erfunden“, noch bevor diese in den höheren Schulklassen als Lehrstoff behandelt wurde.

Im Jahre 1919 begann er mit dem Studium der Mathematik an der Universität Amsterdam, wo ihn besonders die Vorlesungen von Hendrik de Vries beeindruckten. Nach Abschluß seiner Studien in Amsterdam erhielt er ein Stipendium zum post-graduate Studium in Göttingen. In den zwanziger Jahren war Göttingen weltweit als Zentrum der mathematischen Forschungsaktivitäten etabliert, und van der Waerden erhielt hier die Möglichkeit, seinen wissenschaftlichen Horizont zu erweitern und seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Von dem ihm freundschaftlich verbundenen Hellmuth Kneser wurde er in die damals im Zentrum der mathematischen Forschung stehenden Gebiete eingeführt, angefangen von der Mathematischen Physik bis hin zur Topologie, Zahlentheorie und Analysis.

Von diesen seinen Göttinger „Lehrjahren“ erzählt er in einem vor Studenten gehaltenen Vortrag in Heidelberg im Jahre 1979. Er berichtet darin, daß unter den vielen herausragenden Mathematikern, die er in Göttingen treffen konnte, es Emmy Noether gewesen sei, die ihn am meisten beeindruckt und richtungweisende Anregungen gegeben habe. Emmy Noether machte ihn mit den Strukturproblemen der damals modernen Algebra und ihrer Anwendung auf die Grundlegung der algebraischen Geometrie vertraut.

Unter dem Einfluß der Göttinger Vorlesungen von Emmy Noether entstand das epochemachende Buch, durch welches der junge van der Waerden in der mathematisch interessierten Öffentlichkeit weltweit bekannt wurde, nämlich die „Moderne Algebra“. Es erschien 1930 und seitdem in vielen Auflagen und in vielen Sprachen. In diesem brilliant geschriebenen Buch, das heute zu der klassischen Mathematikliteratur gezählt wird, präsentiert er in lehrbuchartiger Form den damals „modern“ werdenden Aufbau der Algebra unter strukturtheoretischen Gesichtspunkten, wie er sich in den zwanziger Jahren vornehmlich unter dem Einfluß von Emmy Noether und Emil Artin durchzusetzen begann. Inzwischen hat sich diese strukturelle Auffassung der Algebra auf die gesamte Mathematik ausgedehnt, und sie hat das Bild der Mathematik in diesem Jahrhundert entscheidend geprägt. (In den neuesten Auflagen wurde demgemäß das Wort „modern“ aus dem Titel weggelassen; das Buch heißt jetzt schlicht „Algebra“.)

Vielfach wird der Name van der Waerdens sogar als Synonym für diese Art der Auffassung der Mathematik benutzt; man spricht von dem „Zeitalter der van der Waerdenschen Struktur-Mathematik“. Damit wird man jedoch der historischen Wirkung von van der Waerden nicht gerecht. Denn einerseits hat er die damals „moderne“ Algebra nicht selbst erdacht, sondern diese hatte sich in den zwanziger Jahren aus früheren Anfängen kumulativ entwickelt; van der Waerden war nicht der Autor, sondern der Berichterstatter für diese Entwicklung. Andererseits hat van der Waerden, wie bereits gesagt, auch auf vielen anderen Gebieten entscheidende Beiträge und Impulse geliefert; sein Einfluß auf die Mathematik dieses Jahrhunderts läßt sich nicht auf die „Moderne Algebra“ reduzieren.

Bereits im Jahre 1928, also mit 25 Jahren, erhielt van der Waerden einen Ruf nach Rostock und gleich darauf einen weiteren Ruf als Ordinarius nach Groningen; den letzteren nahm er an. Drei Jahre später ging er nach Leipzig. Bestimmend für ihn, den Ruf nach Leipzig anzunehmen, war es, daß dort die Physiker Heisenberg und Hund wirkten. Als Ausfluß seiner dortigen Zusammenarbeit in gemeinsamen Seminaren erschien sein Buch „Die gruppentheoretische Methode in der Quantenmechanik“, das viele Leser und mehrere Auflagen fand und auch heute noch aktuell ist.

In seine Leipziger Zeit fiel auch der Beginn der freundschaftlichen Verbundenheit van der Waerdens mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, die zu fruchtbaren Diskussionen führte. Das besondere Interesse van der Waerdens an der Geschichte der antiken Mathematik und Astronomie hat wohl hier, wenn auch nicht seinen Ursprung, so doch einen wesentlichen Anstoß erfahren, nämlich durch eine Vorlesung Gadamers über Plato.

Nach Beendigung des 2. Weltkrieges ging van der Waerden, der mit seiner Familie in Leipzig ausgebombt war, zunächst nach Holland zurück. Er erhielt 1947/48 Angebote nach Baltimore und nach Amsterdam und nahm 1951 schließlich einen Ruf an die Universität Zürich an, wo er bis an sein Lebensende wirkte. Einen Ruf nach München 1953 lehnte er ab.

Alle Publikationen von van der Waerden zeichnen sich durch große Eleganz und Klarheit aus und werden aus diesem Grunde geschätzt. Es ist sicher kein Zufall, daß in dem kleinen Bändchen des russischen Mathematikers A. Khintchin mit dem Titel „Drei Perlen der Zahlentheorie“ eine dieser „Perlen“ von van der Waerden stammt: es handelt sich um einen wichtigen, aber schwierigen zahlentheoretischen Satz, dessen Beweis durch van der Waerden so vorbildlich geführt wurde, daß er auch für Nicht-Fachleute verständlich und nachvollziehbar ist.

Van der Waerden war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien. Im Laufe seines Lebens erhielt er vielerlei Auszeichnungen und Ehrungen, unter denen hier nur der Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste hervorgehoben sei.

Es ist im Rahmen dieses Artikels nicht möglich, alle wissenschaftlichen Arbeiten van der Waerdens zu würdigen. Aber es sollen zumindest noch die folgenden beiden großen Projekte erwähnt werden, die neben der „Modernen Algebra“ und der „Quantentheorie“ die nachhaltigste Wirkung hatten, und die ihm selbst besonders am Herzen lagen. Das sind: (1) die exakte Begründung der Algebraischen Geometrie, und (2) die Geschichte der Mathematik und Astronomie.

Noch während der Göttinger Zeit begann van der Waerden mit seinem groß angelegten, ebenfalls von Emmy Noether beeinflußten Programm: nämlich die von den italienischen Geometern des 19. Jahrhunderts überkommene Algebraische Geometrie auf eine sichere Grundlage zu stellen. Denn deren Grundbegriffe, z.Bsp. der Dimension, des allgemeinen Punktes einer Mannigfaltigkeit, der Multiplizität etc., beruhten damals auf intuitiver Einsicht und konnten demnach im Sinne der modernen Mathematik nicht als streng begründet gelten.

Das Interesse van der Waerdens an diesem Problem geht nach seinen eigenen Worten zurück auf seine Amsterdamer Studienzeit, als er durch die Vorlesungen von Hendrik de Vries in den „Kalkül der abzählenden Geometrie“ von Schubert eingeführt wurde. Es handelt sich dabei um eine faszinierende Theorie, welche es gestattet, die Anzahl der Lösungen eines geometrischen Problems zu bestimmen. Schubert hatte diesen Kalkül mit Virtuosität ausgebaut, nur waren seine Beweise leider nicht stichhaltig und wurden nie anerkannt. Und doch sind sie irgendwie überzeugend.

Van der Waerdens Ziel war eigentlich die strenge Kontrolle der Ergebnisse des Schubertschen Kalküls. Aber sein Programm der Grundlegung der Algebraischen Geometrie weist schließlich weit über dieses Ziel hinaus, und dadurch gewinnt es seine besondere Bedeutung im Rahmen der zeitgenössischen Mathematik.

In einer 20-teiligen Serie von Beiträgen „Zur algebraischen Geometrie“ beginnt er damit, sein anspruchsvolles Programm schrittweise durchzuführen. Er initiiert damit eine Entwicklung, die sich seit den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts in immer stärkerem Maße Bahn bricht. Die Absicherung der Grundlagen der Algebraischen Geometrie erlaubte es, deren Methoden auf andere als die klassischen geometrischen Probleme anzuwenden, z.Bsp. auch auf die Zahlentheorie, und auch auf die Quantentheorie der Physik. Es entstand schließlich daraus die heute sog. Arithmetische Geometrie, die bedeutende Erfolge aufzuweisen hat und deren Sichtweise ein wesentlicher Bestandteil der zeitgenössischen Mathematik geworden ist.

Van der Waerden gebührt das Verdienst, die Notwendigkeit eines solchen Programms erkannt und sogleich mit der Durchführung begonnen zu haben. Er blieb nicht der einzige, und im Laufe der nächsten Jahrzehnte übernahmen andere bedeutende Forscher diese Stafette, um sie weiterzutragen. Im Laufe dieser Entwicklung können aus heutiger Sicht einige dieser 20 Arbeiten von van der Waerden als überholt gelten, aber sie haben zu ihrer Zeit eine besondere Wirkung auf die Weiterentwicklung des Projekts gehabt.

Und einige Arbeiten sind in der Tat heute noch von Bedeutung. Dazu gehören insbesondere seine Arbeiten in Kooperation mit seinem Doktoranden Wei Liang Chow, seinem „berühmtesten Schüler“.

Einem weiteren Leserkreis bekannt geworden ist van der Waerden durch seine Arbeiten zur Geschichte der Mathematik und der Astronomie. Als Historiker trat er zum ersten Mal mit seinem Buch „Erwachende Wissenschaft“ an eine größere Öffentlichkeit. Es erschien 1950 auf holländisch und wurde später ins Deutsche und auch in andere Sprachen übersetzt. Dieses Buch, welches bei seinem Erscheinen besondere Aufmerksamkeit und großes Interesse erregte, behandelt die Mathematikgeschichte der Babylonier, Ägypter und der Griechen.

Auch in Hinsicht auf die Geschichte der Mathematik geht van der Waerdens Interesse auf die Studienzeit in Amsterdam zurück, als Hendrik de Vries eine Vorlesung über Geschichte der Mathematik gehalten hat. Und wie bei seiner Algebra wurde dieses Interesse gefördert und angeregt während seiner „Göttinger Lehrjahre“, und zwar diesmal durch O. Neugebauer, bei dem er Vorlesungen über antike Mathematik hörte.

Das Buch über erwachende Wissenschaft blieb nicht das einzige historische Werk van der Waerdens. Eine ganze Reihe weiterer Bücher und Originalarbeiten folgten, nicht nur über die antike Mathematik der Babylonier, Ägypter und Griechen, sondern auch über die Mathematik in Indien und Persien sowie deren Astronomie, und schließlich auch über die Mathematikgeschichte bis zur Neuzeit. Jede seiner Arbeiten ist gekennzeichnet durch ein sorgfältiges Studium des zugänglichen Quellenmaterials, und dann weiter durch ebenso sorgfältige, auf innermathematischen Gegebenheiten beruhende Interpretationen und Schlußfolgerungen. Hierbei ist van der Waerden, der ja als aktiver Mathematiker an die Geschichte der Wissenschaften herangehen konnte, oftmals zu neuen, teilweise überraschenden Schlußfolgerungen gekommen, und es blieb nicht aus, daß diese gelegentlich als zu gewagt kritisiert wurden.

Unbestritten ist, daß van der Waerden aufgrund seiner historischen Arbeiten zu den führenden Wissenschaftshistorikern unseres Jahrhunderts zu zählen ist.

      Peter Roquette

Literatur: