Gutachten Weyl
Mathematisches Institut
der Universität Göttingen
den 12. Juli 1933
EMMY NOETHER nimmt in der heutigen mathematischen Forschung durch ihre ungewöhnliche naturwüchsige produktive Kraft sowie durch die zentrale Bedeutung und den grossen Zusammenhang der von ihr bearbeiteten Probleme eine hervorragende Stellung ein. Sie wusste in Göttingen durch ihre Forschung und durch die Suggestivität ihrer Lehre den grössten Kreis von Schülern um sich zu versammeln. Wenn ich sie mit den beiden Mathematikerinnen vergleiche, deren Ruhm in die Geschichte eingegangen ist, SOPHIE GERMAIN und SONJA KOWALEWSKA, so ragt sie entschieden über beide hinaus durch die Originalität und Intensität ihrer wissenschaftlichen Leistung. Auf dem Felde der Mathematik ist EMMY NOETHER ein ebenso wichtiger und anerkannter Name wie der LISE MEITNERs in der Physik.
Sie vertritt vor allem die “abstrakte Algebra“. Das Wort “abstrakt“ weist in diesem Zusammenhang durchaus nicht darauf hin, dass es sich um einen besonders “lebensfernen“ Zweig der Mathematik handelt. Die herrschende Tendenz ist vielmehr, die Probleme durch sehende Gedanken, durch Vermittlung einer dem Gegenstand möglichst angemessenen Begriffsbildung, statt durch blinde Rechnung zu zwingen; Fräulein NOETHER ist in dieser Hinsicht die legitime Nachfolgerin des grossen deutschen Zahlentheoretikers R. DEDEKIND. Die abstrakte Algebra ist überdies dasjenige Gebiet der Mathematik, das heute dank der Quantentheorie in den innigsten Beziehungen zur Physik steht.
EMMY NOETHER ist auf diesem Felde, auf welchem sich die mathematische
Forschung gegenwärtig am lebendigsten weiter entwickelt, in In- und Ausland als
die eigentliche Führerin anerkannt.
H. Weyl
Göttingen, 12. Juli 1933 Prof. Dr. H. Weyl