Mathematik und Kultur 12. März 2009. Kommentare. __________________________________________________________________

 

Zu Blatt 1 (Pythagoräische Dreiecke):

Man nehme eine Schnur von 12 m Länge. An den Enden und an den Stellen 3 m und 7 m sind Knoten angebracht. Verknoten wir die beiden Enden und spannen die Schnur dann an den 3 Knoten, so erhalten wir ein Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5.

Auf diese Weise entsteht ein rechtwinkliges Dreieck; der rechte Winkel findet sich dort, wo die Seiten a = 3,b = 4 zusammenkommen.

Diese Konstruktion ist seit alters her überliefert. Wahrscheinlich diente sie Architekten und Landvermessern als eine bequeme Methode, einen rechten Winkel mit hinreichender Genauigkeit herzustellen. In der Tat wird berichtet, dass bei dem Bau ägyptischer Pyramiden sogenannte „Seilspanner“ benötigt wurden, und man kann sich vorstellen, dass durch das Seilspannen ein rechter Winkel hergestellt wurde.

Für den Nutzer dieser Methode war ein Seil mit den Einteilungen drei, vier und fünf durchaus hinreichend. Für den Mathematiker beginnt jedoch hier die Fragestellung:

Weshalb ergibt diese Konstruktion gerade ein Dreieck mit einem rechten Winkel?

Die Antwort wird gegeben durch den Satz des Pythagoras:

In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Quadratsumme der beiden Katheten a,b gleich dem Quadrat der Hypothenuse c, also a2 + b2 = c2. Und umgekehrt: Wenn wir von irgendeinem Dreieck wissen, dass die Quadratsumme zweier Seiten a,b gleich dem Quadrat der dritten Seite c ist, dann können wir schließen, dass es sich um ein rechtwinkliges Dreieck handelt, mit a,b als Katheten und c als Hypothenuse.

Pythagoras lebte um 550 v.Chr. Heute wissen wir, dass sein Satz schon viel früher bekannt war. Das Bild zeigt einen babylonischen Text in babylonischer Keilschrift, der sich mit diesem Satz befasst. Der Text wird datiert um etwa 1900 v.Chr., also mehr als 1300 Jahre vor Pythagoras.

In der damaligen Zeit schrieb man nicht auf Papier oder Pergament, sondern auf Tontafeln. Der Text wurde mit einem Griffel eingeritzt, solange der Ton noch weich war; danach wurde der Ton getrocknet oder gebrannt.

Die archäologische Forschung hat Hunderte von Tontafeln mit Keilschrift-Texten ausgegraben. Die Inhalte dieser Texte sind vielfältig: Gesetzestexte, Verträge über Geschäftsabschlüsse, Abrechnungen, Planungen und Kostenvoranschläge für Bauwerke einschl. Kanalbauten etc. Aber eben auch Mathematik. Man hat ganze Bibliotheken gefunden, die mathematische Informationen enthalten. Eine Reihe von Aufgabensammlungen werden als Lehrbücher gedeutet: Bruchrechnung, Lösung linearer und quadratischer Gleichungen, Geometrie, Berechnung von Flächen- und Rauminhalten, Astronomie. Die Mathematik spielte in der babylonischen Kultur eine bedeutende Rolle.

Die Entzifferung der Keilschrift gelang bereits im frühen 19. Jahrhundert. Aber es dauerte noch ungefähr 100 Jahre, bis 1926, als der Göttinger Mathematiker Neugebauer entdeckte, dass sich unter den Keilschrifttexten auch Mathematik befand. Darunter eben auch der „Satz von Pythagoras“.

Die auf dem Bild gezeigte Tontafel enthält die Antwort auf die folgende Frage:

Gibt es außer dem Dreieck 3, 4, 5 noch andere pythagoräische Dreiecke? Wenn ja, wie findet man diese?

Natürlich kann man einen anderen Längenmaßstab wählen. Das bedeutet: man kann 3, 4, 5 mit einem beliebigen Faktor strecken oder verkürzen. Zum Beispiel mit dem Faktor 3, wodurch sich 9, 12, 15 ergibt. Oder mit dem Faktor 1/3 mit dem Resultat 1, 4/3, 5/3 . Solche bloßen Maßstabsänderungen ergeben lediglich einander ähnliche Dreiecke, für den Mathematiker also nichts wesentlich Neues. Aber gibt es darüber hinaus noch weitere pythagoräische Dreiecke?

Das ist in der Tat der Fall. Zum Beispiel 5, 12, 13 und 20, 21, 29. Das kann man vielleicht noch durch Ausprobieren feststellen. Aber wie erhält man eine Übersicht über alle möglichen pythagoräischen Dreiecke?

Heute lernen die Mathematik-Studenten in dem Anfangsunterricht der Zahlentheorie das Verfahren zur Herstellung aller pythagoräischen Dreiecke. Aus dem gezeigten Keilschriftdokument ersehen wir, dass das Verfahren auch schon in der babylonischen Kultur bekannt war.

Es handelt sich um das rechte Teilstück einer größeren Tafel mit mehreren Spalten. Die letzte Spalte enthält nur die laufenden Nummern 1,2,…,15. Die beiden vorhergehenden Spalten beziehen sich laut Überschrift auf die „Breite“ und die „Diagonale“, das sind eine Kathete und die Hypothenuse. Ohne Zweifel stand die andere Kathete in einer früheren Spalte, die abgebrochen ist. Zum Beispiel stehen in der ersten, zweiten und vierten Zeile die Zahlen der folgenden Tabelle, wobei ich in Klammern die fehlende andere Kathete aufgeführt habe.

 

(120) 119 1691 (2,0) 1,59 2,49
(3456) 3367 48252 (57,36) 56,71,20,25
(13500)12709185414(3,45,0)3,31,49 5,9,1

(Auf der linken Hälfte der Tabelle habe ich diese Zahlen in dem uns geläufigen Dezimalsystem angegeben. Auf der rechten Hälfte habe ich die Zahlen im Sexagesimalsystem hingeschrieben, so wie sie auf dem Stein zu lesen sind. Zum Beispiel bedeutet 5, 9, 1 die Zahl 5*602 + 9*60 + 1 = 18541.)

Wie man nachrechnen kann, ist in der Tat die Summe der Quadrate in den ersten beiden Spalten gleich dem Quadrat in der dritten Spalte, z.Bsp.

13500² + 12709² = 18541²

nämlich:

16518681 + 182250000 = 343768681.

Dies zeigt nicht nur, dass die babylonischen Mathematiker das systematische Verfahren zur Herstellung von pythagoräischen Dreiecken bereits kannten, denn es erscheint unwahrscheinlich, dass man diese großen Zahlen durch bloßes Ausprobieren finden konnte. Ausserdem sehen wir, dass man damals gut mit großen Zahlen rechnen konnte.

Die Babylonier benutzten für die Zahlen das Sexagesimalsystem, also ein Stellensystem zur Grundzahl 60 anstelle des heute gebräuchlichen Systems zur Grundzahl 10, dem sog. Dezimalsystem. (Unten auf dem Blatt 1 findet man die babylonischen Zahlzeichen für 1, 2, 3,19 aufgeführt.)

Eines ist evident: Die Konstruktion aller pythagoräischen Dreiecke (es gibt unendlich viele) war und ist für die Anwendungen der Mathematik bedeutungslos. Denn um ein rechtwinkliges Dreieck zu erhalten, würde es für den Praktiker (Seilspanner) völlig genügen, mit dem Dreieck 3, 4, 5 zu arbeiten. Die Beschreibung aller pythagoräischen Zahlentripel ist typisch für ein Projekt der „Reinen Mathematik“, es handelt sich sozusagen um eine Expedition in das unendliche Zahlenreich (genauer: ins Reich der natürlichen Zahlen) – ohne eine bestimmte Anwendung im Auge zu haben.

Um nicht einen falschen Eindruck zu erwecken, möchte ich betonen, dass die babylonische Kultur keineswegs die einzige vorgriechische Kultur ist, in der die Mathematik florierte. Auch in dem antiken Ägypten, in Indien und in China war die Mathematik hoch entwickelt. Und auch in diesen Kulturen war der Pythagoräische Lehrsatz bekannt!

Im Hinblick auf die Parallelität der Entwicklungen in diesen Kulturen ist die Vermutung ausgesprochen worden, dass sie einen gemeinsamen Ursprung besitzen. Das ist aber bislang nicht nachgewiesen. Überzeugender erscheint es mir, dass sich die Mathematik parallel an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten entwickelt hat. Das ist ja auch z.Bsp. bei Sprache, Religion, Astronomie und Technik zu beobachten.