Friedrich Wilhelm Bessel

Gedanken zu der neuen Biographie über den Königsberger Astronomen

Die Kant-Grabstätte an der Ruine des Domes ist wohl eines der am häufigsten besuchten und fotografierten Denkmäler im heutigen Kaliningrad. Der Name des großen Philosophen Immanuel Kant ist ein Symbol für die universelle, in alle Welt wirkende geistige Tradition des früheren, deutschen Königsberg und seiner Universität, der „Albertina“. Die meisten anderen Denkmäler, Straßennamen, Grabsteine etc. aus der deutschen Zeit, die an die Tradition der Albertina erinnerten, sind durch Kriegs- und Nachkriegsereignisse zerstört, ausgelöscht, vernichtet worden.

In einem verborgenen Winkel Kaliningrads, abseits der Touristenströme, gibt es aber eine weitere Gedenkstätte für einen berühmten Gelehrten der Albertina. Auf dem Butterberg, wo sich die Königsberger Sternwarte vor ihrer Zerstörung befand, steht eine Tafel aus schwarzem Marmor mit der Inschrift in deutscher und russischer Sprache:

Friedrich Wilhelm Bessel
1784–1846
Deutscher Astronom

Diese Bessel-Gedenktafel wurde im Jahre 1975 aufgestellt. Daß sie damals überhaupt aufgestellt werden durfte, war den unermüdlichen, nicht nachlassenden Bemühungen von Professor K. Lawrynowicz von der Universität Kaliningrad zu verdanken. Anscheinend war es das erste Denkmal, das in Kaliningrad für einen Vertreter der deutschen Kultur aus der Zeit vor dem Kriege neu errichtet werden konnte.

Bessels Name ist in der Öffentlichkeit nicht in demselben Maße bekannt wie der von Kant, obschon Bessel zweifellos zu den herausragenden Persönlichkeiten Königsbergs im letzten Jahrhundert gehörte. In einem zeitgenössischen Bericht wurde er „neben Kant als der bedeutendste Gelehrte der Albertina überhaupt“ bezeichnet.

Für den russischen Leser hat K. Lawrynowicz eine Bessel-Biographie geschrieben, die 1989 im Moskauer Verlag „Nauka“ herauskam. Sie ist jetzt auch für den deutschen Leser zugänglich; die deutsche Übersetzung erschien kürzlich im renommierten Birkhäuser-Verlag. 1) Dieses interessante, inhaltsreiche Buch wendet sich nicht speziell an Fachgelehrte, sondern ausdrücklich an die breitere Öffentlichkeit, um über Bessel und seine Zeit zu informieren.

Was für eine Persönlichkeit tritt uns in diesem Buch mit Bessel entgegen! Als Autodidakt, ohne höhere Schulbildung oder akademisches Studium, gewinnt er schon in jungen Jahren durch seine astronomischen Arbeiten Anerkennung durch die führenden Gelehrten seiner Zeit. Mit 27 Jahren erhält er auf Betreiben von Gauß die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen, nachdem er schon vorher als Professor an die Albertina nach Königsberg berufen worden war. Ihm wird von dem preußischen König die Planung und der Bau der Königsberger Sternwarte übertragen, die sich dann unter seiner Leitung zum damals führenden astronomischen Zentrum der Welt entwickelt. Nicht nur in Astronomie und Geodäsie, auch in vielen anderen Wissenschaften hat Bessel Bedeutendes geleistet, und sein Name wird mit seinen Entdeckungen verbunden bleiben.

In Minden (Westfalen) geboren und aufgewachsen, wurde Bessel durch seine Heirat mit Johanna Hagen ganz zum Königsberger; er blieb dieser Stadt bis an sein Lebensende treu. Johanna Hagen war die Tochter des älteren Kollegen Bessels, des Physikers Karl Gottfried Hagen, der noch zur Tischrunde von Immanuel Kant gehört hatte. Bessel selbst ist Kant nicht mehr persönlich begegnet; er gehörte jedoch zur „Gesellschaft der Freunde Kants“, welche einmal im Jahr, an Kants Geburtstag, zu einem Festmahl zusammenkam. Es war übrigens Bessels Vorschlag, diese Zusammenkünfte durch das fröhliche Ritual der Wahl des „Bohnenkönigs“ zu beleben – eine Gewohnheit, die sich bis heute unter den Freunden Kants erhalten hat.

Dem Leser, der dieses schöne Bessel-Buch von Lawrynowicz zur Hand nimmt, sei gesagt, daß es sich um eine seltene Kostbarkeit handelt, die sich in dreierlei Hinsicht besonders auszeichnet:

Erstens beschränkt sich der Autor nicht auf die Schilderung der wissenschaftlichen Leistungen Bessels, sondern er stellt ihn uns als Mensch und Persönlichkeit vor. Der Autor zeigt Verständnis und menschliche Wärme, die man nicht oft in wissenschaftlichen Biographien findet. Bessels Einfluß auf die nächste Generation von Astronomen und wiederum auf deren Nachfolger läßt sich nicht alleine aus seinen wissenschaftlichen Erfolgen erklären, sondern beruht zu einem erheblichen Teil auf seiner persönlichen Ausstrahlung, die der Autor engagiert und lebendig schildert. Es handelt sich um ein literarisches Meisterwerk. Die hervorragende Übersetzung wird dem Stil des Autors voll gerecht.

Zweitens versteht es der Autor, die zahlreichen, weitgespannten wissenschaftlichen Arbeiten und Leistungen von Bessel auch dem Nichtfachmann verständlich und spannend darzustellen, sozusagen im Plauderton, ohne daß dabei die Darstellung an Genauigkeit einbüßt.

Drittens aber, und nicht zuletzt, besitzt dieses Buch deshalb eine in der deutschsprachigen Bessel-Literatur einmalige Bedeutung, weil es von einem russischen Autor geschrieben wurde. Der Autor ist Astronom und Professor an der russischen Universität im heutigen Kaliningrad, der Stadt, die früher Königsberg hieß und die Stadt Bessels war. Die Arbeit an dem Buch wurde begonnen und durchgeführt zu einer Zeit, als es aufgrund der politischen Verhältnisse drüben „nicht zum guten Ton gehörte“, öffentlich auf die reiche kulturelle Tradition des früheren Königsberg aufmerksam zu machen. Der Autor hat es trotzdem gewagt und sich engagiert dafür eingesetzt, diese Tradition zu erforschen und seinen Landsleuten zugänglich zu machen, auch wenn ihm die in westlichen Archiven und Bibliotheken vorhandenen Dokumente über Bessel damals noch nicht zugänglich waren.

In dieser Hinsicht ist dieses Buch ein literarisches Zeitdokument und legt Zeugnis ab dafür, daß sich Wissenschaft und Kultur nicht auf Dauer durch politische Systeme und Kurzsichtigkeit einengen lassen, sondern ein Bindeglied über die Grenzen hinweg darstellen – wenn es eines solchen Beweises überhaupt noch bedarf.

Wer nun durch die uns so fremd gewordene Stadt Kaliningrad/Königsberg wandert und bewußt die Gedenkstätten der Königsberger Tradition aufsuchen will, dem sei empfohlen, neben Kant am Dom auch Bessel auf dem Butterberg einen Besuch abzustatten. Wenn der Bus auf seiner Stadtrundfahrt nicht dorthin fährt, dann wende man sich vom Hotel Kaliningrad aus in westliche Richtung (dorthin wo früher die Alhambra-Lichtspiele waren) und gehe durch die Wagnerstraße (die auch heute noch Wagnerstraße heißt), vorbei an den früheren Universitätskliniken und dem leeren Platz, auf dem früher die Neuroßgärter Kirche stand, vorbei auch an dem alten, jetzt ziemlich verwilderten Botanischen Garten (den zu besuchen man nicht versäumen sollte) bis hin zu dem früheren Volkspark, in dem sich als bescheidener Hügel der Butterberg erhebt.

Die Gedenkplatte befindet sich an der Stelle des früheren Bessel-Denkmals, das heute verschollen ist. Nicht weit davon entfernt stand die berühmte Besselsche Sternwarte, von der nur noch Reste der Grundmauern vorhanden sind.

Hier also wurden durch Bessel und seine Schüler in langen Beobachtungsreihen und in mühevoller Rechenarbeit die Grundlagen der hochpräzisen Astronomie gelegt, ohne die weder die heutigen Errungenschaften der Astrophysik und der Stellarastronomie, noch die Erfolge der Raumfahrt vorstellbar sind. Hier, in der Besselschen Sternwarte, wurden erstmals die Sternkataloge hoher Präzision angefertigt, welche bis heute richtungweisend sind. Hier wurde die jährliche Sternparallaxe mit der erforderlichen Genauigkeit gemessen und damit erstmalig der Nachweis für die Richtigkeit des Kopernikanischen Weltbildes erbracht, wofür Bessel mit der Goldmedaille der britischen Royal Astronomical Society ausgezeichnet wurde, der „höchsten Auszeichnung, die ein Astronom damals erreichen konnte“. Hier vollendete sich das Leben eines der größten Astronomen der Geschichte.

Unwillkürlich fällt einem das Zitat von Immanuel Kant ein, das jeder Königsberger kennt, weil es auf einer Gedenktafel zu lesen stand, die an der Schloßmauer angebracht war (und heute, nach Neuanfertigung, an einem Platz in der Nähe des früheren Standorts hängt). Kant spricht darin von zwei Dingen, die ihn immer wieder mit „Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllen: dem „moralischen Gesetz in mir“ und dem „gestirnten Himmel über mir“. Friedrich Wilhelm Bessel hat es, was den gestirnten Himmel anlangt, nicht bei Bewunderung und Ehrfurcht bewenden lassen: er war fasziniert von den Rätseln der Himmelserscheinungen und hat sein ganzes, erfülltes Leben ihrer Aufklärung, Erforschung und genauen Vermessung gewidmet – ohne dabei die von Kant beschworene Bewunderung und Ehrfurcht zu verlieren.

Die dem Butterberg benachbarte Straße, die früher „Besselstraße“ hieß, wurde nach dem Krieg wie die meisten Königsberger Straßen umbenannt, erhielt aber im Jahre 1989 ihren alten Namen wieder zurück, ebenfalls auf Betreiben von K. Lawrynowicz, des Autors unserer Bessel-Biographie. Am Haus Nr. 2 der Besselstraße hängt seitdem ein Schild mit der folgenden Inschrift in russischer Sprache:

Die Straße ist benannt nach Friedrich Wilhelm Bessel (1784–1846), dem berühmten deutschen Astronomen, Geodäten und Mathematiker, Reformator der praktischen Astronomie und Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften.

So wird das Andenken an den berühmten Königsberger nicht nur in seiner Geburtsstadt Minden hochgehalten (durch das dortige Bessel-Gymnasium) sowie auf dem Mond (wo ein Mondkrater nach Bessel benannt ist), sondern heute auch wieder in seiner Heimatstadt, in unmittelbarer Nähe seiner früheren Wirkungsstätte.

Das Grab Bessels befand sich nicht an der Stelle der heutigen Gedenkplatte, wie die meisten Besucher annehmen. Sondern es lag unterhalb des Butterberges in einer Ecke des Neuroßgärter Friedhofs, welche seit Beginn dieses Jahrhunderts als „Ehrenfriedhof“ bezeichnet wurde, weil dort auch andere berühmte Gelehrte aus Königsberg beigesetzt waren, u.a. Franz Neumann, Theodor Gottlieb Hippel, Carl Albrecht Wagner, Friedrich Julius Richelot, Johann Karl Friedrich Rosenkranz, August Ludwig Busch. Die Gräber sind in der Nachkriegszeit zerstört worden und heute nicht mehr zu erkennen; durch den früheren Ehrenfriedhof zieht sich eine Mauer mit angrenzenden Schuppen oder Garagen. Vielleicht wird es in Zukunft gelingen, auch diesen Platz neu zu ordnen und einen Gedenkstein zur Erinnerung an alle dort begrabenen Königsberger Gelehrten aufzustellen – vielleicht sogar noch im „Bessel-Jahr“ 1996.

Arbeitspläne dazu scheinen bereits fertig zu sein, jedoch fehlt es vorderhand noch an den nötigen Mitteln.

Peter Roquette (Heidelberg),  1.9.1995